Thomas Schaaf über einen anderen Umgang mit Tod und Trauer
Draußen taucht milde Herbstsonne das Bremer Weserstadion in funkelndes
Licht. Ein schöner Tag, um hinter der breiten Fensterfront des Pressezentrums
mit Thomas Schaaf über Tod und Trauer zu sprechen. Der 48-jährige
Fußballtrainer ist Botschafter eines Zentrums für trauernde
junge Menschen. Wenn er davon erzählt, benutzt er stets das Personalpronomen
„Wir“ – ein Ausdruck tiefer Verbundenheit mit dort geleisteter
Arbeit.
Thomas Schaaf, 2003 verstarben drei Menschen aus ihrem engsten Familien-
und Freundeskreis ...
... innerhalb von drei Monaten, ja. Mein Bruder, der Mann meiner Schwiegermutter
und einer unserer besten Freunde. Für unsere Familie war das ein
heftiges Jahr.
Wie vorbereitet konnten Sie sein auf die Emotionen, die solche Ereignisse
auslösen?
Mein Bruder starb plötzlich - völlig unvorbereitet aus heiterem
Himmel. Bei den anderen beiden war es ein bisschen anders, unser Freund
ist sehr krank gewesen. Aber Sie können noch so vorbereitet sein,
Sie können wissen, dass jemand sterbenskrank ist und sich vorher
die Frage stellen, wann kommt denn der Punkt, dass Sie nicht mehr teilhaben
können an einer Person? Wenn es passiert, dann ist alle gedankliche
Vorbereitung wurscht. Dann sind da einfach nur Schmerz und diese eine
Frage: Warum?
Wie sind Sie damals mit dem Verlust umgegangen, mit Schmerz und bohrenden
Fragen?
Wir haben eine sehr emotionale familiäre Bindung. Und sehr viele
Freunde, die uns geholfen haben. Meine Frau, unsere Tochter und ich waren
sehr offen mit den Geschehnissen, wir haben nichts verheimlicht. Wir haben
versucht, unsere Situation rational zu beschreiben. Und wir haben versucht,
alle Emotionen zuzulassen.
Ein Patentrezept gibt es nicht?
Das gibt es nicht. Und das zu wissen, ist ganz wichtig. Man kann nicht
sagen, Trauer hat so oder so auszusehen. Jeder Mensch muss das für
sich selbst herausfinden, jeder muss seine eigene Lösung suchen,
um mit einer solchen Situation umgehen zu können. Auf uns bezogen
war es damals so, dass wir sehr eng aneinander gerückt sind. Wir
haben zugelassen, miteinander zu weinen. Wir haben auch all die anderen
Gedanken zugelassen: Was ist im Zusammenleben vielleicht auch schlecht
gelaufen? Und vor allem: welche fantastischen Momente haben wir zusammen
erleben dürfen?
Sie unterstützen als prominenter Botschafter das Bremer Zentrum
für trauernde Kinder und Jugendliche. Kinder gehen mit Trauer häufig
anders um als Erwachsene. Wie hat Ihre Tochter damals die Situation bewältigt?
Sie war da Zwölf. Wir hatten riesen Glück, dass sie sich nicht
zurückgezogen hat ...
... was ein typischer kindlicher Reflex in solchen Situationen ist.
Deshalb war unser wichtigstes Anliegen ihr zu vermitteln, du kannst bestimmte
Dinge nur dann bewältigen, wenn du sie auch thematisierst, wenn du
dich nicht verschließt. Sie hat uns immer dieses Vertrauen gegeben,
auch auf uns zuzukommen, wenn sie bei sich Wirkungen bemerkte. Wenn sie
das Gefühl hatte, sie muss sich gehen lassen, sie muss weinen und
traurig sein. Wir haben ihr vermittelt, dass sie das Recht dazu hat.
Oft versuchen Kinder auch, die Situation lustig zu überspielen,
um Erwachsene nicht noch mehr zu belasten.
Das kommt alles vor, richtig. Unsere Tochter hat das nicht getan. Wir
haben auch versucht, unserem Leben treu zu bleiben – nicht in einen
absoluten Trauerzustand zu fallen, sondern weiterhin den alltäglichen
Dingen nachzugehen. Aber die Verhaltensmuster von Kindern sind schon anders
als die von Erwachsenen.
Welche Möglichkeiten der Aufarbeitung vom Umgang mit Trauer bietet
das Bremer Zentrum jungen Menschen?
Wir haben eine Zone, in der man sich zurückziehen kann. Eine andere,
um sich gegenseitig zu beschnuppern. Eine, um einfach nur da sein zu können.
Noch eine, in der man Frust, Kraft und Gewalt loswerden kann, wenn man
sie in sich spürt. Man kann auch kreative Formen nutzen und so ausdrücken,
wie man sich fühlt. Ganz wichtig ist zu spüren, dass man in
solchen Momenten nicht mit den Dingen allein ist. Sondern dass da andere
Menschen sind, die mein persönliches Schicksal aus eigener Erfahrung
teilen.
Bei Tod und Trauer geht es um tiefe Emotionen. Dennoch scheint sich
unsere Gesellschaft schwer damit zu tun, solche Gefühle auch zu zeigen
und zuzulassen.
Dieses Tabu muss endlich weg. Trauer ist absolut negativ besetzt.
Dabei gehört der Tod zum Leben.
Natürlich, und deshalb darf zusätzlich zur Trauer nicht noch
mehr geschehen. Wenn Sie beispielsweise bei einer Beerdigung sind und
es kommen Kinder in den Raum, dann werden Erwachsene oft leise, die Tonlage
verändert sich. Damit schaffen sie aber nur eine Situation, in der
Kinder sich fragen: Warum tuscheln die plötzlich alle? Habe ich etwas
falsch gemacht, bin ich vielleicht schuld daran, dass der Tod gekommen
ist? Es darf in Familien auch nicht zu Schuldzuweisungen kommen, zu Lebzeiten
dieses oder jenes nicht gemacht oder geschafft zu haben. Kindern kommen
sonst Fragen, die sie nicht beantworten können.
Warum fällt es uns insgesamt so schwer, offen mit Tod und Trauer
umzugehen?
Weil das unangenehme Themen sind.
Weil sie Angst bereiten?
Angst davor, dem Tod zu begegnen, ja. Die meisten können sicherlich
mit dem Tod nicht umgehen. Sie wissen dann, es ist etwas passiert, vielleicht
auch etwas ungerechtes. Der Tod ist ja nichts schönes.
Wobei das Ziel von Trauerarbeit ja nicht das Vergessen oder Verdrängen
sein sollte. Sondern dem Verlust die Schwere zu nehmen ...
... die Schwere und die entstandene Belastung ...
... mit der Perspektive, zu einem neuen Gleichgewicht zu kommen.
Damit man seinem Leben treu bleiben kann. Ein Verlust ist nie gut. Aber
er darf nicht dazu führen, dass andere Menschen noch zusätzlich
beschwert werden. Wir machen Trauer immer noch an Merkmalen fest –
leise sein, traurig sein. Nein! Man muss auch lachen können, das
ist nicht unanständig. Man muss eine Verbindung haben zu einer Person,
die man nicht mehr in den Arm nehmen kann ...
... und sich über die Trauerarbeit so etwas wie eine ständige
Telefonleitung schaffen zu einem Verstorbenen?
Wir machen das immer wieder in unserer Familie: In wunderschönen
Erinnerungen schwelgen an jemanden, der nicht mehr bei uns ist - der hat
doch immer das und das gemacht, und dann lachen wir darüber.
Andere Gesellschaften sind womöglich schon viel weiter als wir
bisher insgesamt. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Das Wort,
das dir weiterhilft, kannst du dir alleine nicht sagen.“ Auch Trauer
braucht ein Gegenüber.
An ein paar Stellen gibt es schon Veränderungen bei uns. Die traditionelle
Form der Beerdigung, das Essen danach, die Art der Kleidung – solche
Dinge ändern sich langsam. Für mich ist auch hier wichtig, dass
Menschen das Recht haben, sich ihre spezielle Form des Abschiednehmens
selbst wählen zu können. Wenn jemand vor seinem Tod gesagt hat,
ich war mitten im Leben, meine Beerdigung soll keine traurige Geschichte
sein, macht also mal richtig wilde Sau auf mich, eine ordentlich schöne
Party, dann muss man das auch machen dürfen.
Sie sind Cheftrainer beim Bundesligisten Werder Bremen. Wie wird im
Millionengeschäft Profifußball mit den Themen Tod und Trauer
umgegangen, wenn ein Spieler davon betroffen ist?
Wichtig ist, dem Spieler offen und normal gegenüberzutreten. Je größer
eine Veränderung im Verhalten wäre, umso mehr würde sie
auf den anderen einwirken. Ich sage ihm: Ich weiß, wie sich so was
anfühlt. Aber ich kann dir nicht sagen, wie du das jetzt machen musst.
Bei mir war es so und so, und wenn du mit mir darüber reden willst,
dann stehe ich dir zur Verfügung. Du kannst jetzt aber genauso gut
mit mir rumkaspern. Es ist deine Entscheidung, wie du mit der Situation
umgehst. Ich werde mit dir weiter so normal umgehen wie auch vorher.
Und wenn dieser Spieler vor einem wichtigen Spiel käme und sagte:
Trainer, ich kann übermorgen oder in fünf Tagen nicht auflaufen?
Dann würde ich hinterfragen, wie die Situation für ihn ist.
Und versuchen, ihm zu helfen, dass er möglichst schnell wieder zu
seiner Normalität findet. Indem ich ihm zur Seite stehe, ihn ablenke
oder ihm Freizeit gebe. Es gab schon Situationen, in denen ich gesagt
habe: Wenn du dich ablenken willst, dann spiel Fußball. Denn dann
bist du für anderthalb Stunden nicht in dem Thema drin. Aber wenn
ich merke, die Situation belastet ihn so sehr, dass er diesen Dingen gar
nicht folgen kann, dann hat das keinen Sinn. Warum soll ich jemanden zu
etwas prügeln?
Trauer hat auch da viele Gesichter – es gibt kein Patentrezept,
kein allein Richtig oder Falsch?
Genau. Jeder hat das Recht, so mit ihr umzugehen, wie er oder sie das
kann oder möchte.
Interview: Peter Brandhorst
Fotos: Dieter Suhr
Thomas Schaaf
ist Cheftrainer des Fußballbundesligisten Werder Bremen und wirkt
seit 2004 als Botschafter des Bremer Zentrums für trauernde Kinder
und Jugendliche e. V., Trauerland. Das 1999 gegründete Trauerland
war nach eigenen Angaben bundesweit das erste Zentrum, wo junge Menschen
gemeinsam trauern können. Inzwischen gibt es ähnliche Einrichtungen
auch anderswo. Seit 2004 arbeitet in Kiel das Zentrum für trauernde
Kinder Schleswig-Holstein e. V. (www.trauernde-kinder-sh.de)
Seine gesamte bisherige sportliche Karriere hat der frühere Abwehrspieler
Schaaf bei Werder Bremen verbracht. Zwischen 1978 und 1995 bestritt er
262 Erstligaspiele, seit 1999 ist er Cheftrainer. Als Spieler und Trainer
gewann Schaaf bisher insgesamt neun Meisterschaften und Pokalsiege.
Das Interview erschien im Straßenmagazin für Schleswig-Holstein
HEMPELS, Heft 163, November 2009.
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