„Gier ist immer gefährlich“
Uwe Seeler über Moral im Profifußball und Sport als Spiegelbild der Gesellschaft

Uwe Seeler, es scheint, dass Ihnen die Menschen auf ewig freundlich gesinnt sind. 1972 haben Sie Ihre aktive Karriere beendet, aber die Leute schütten Sie ungebrochen zu mit Sympathie. Wie sehen Sie sich selbst – als Vorbild, gar als Idol?
Wer mich kennt weiß, dass ich mich als ganz normaler Mensch fühle. Natürlich freue ich mich, überall gerne gesehen zu sein. Das ist vielleicht auch ein kleines Zeichen dafür, gewisse Dinge nicht verkehrt gemacht zu haben.
Wie oft haben Sie sich schon gesagt: Mein Gott ...
... warum bist du 1961 nicht nach Italien gegangen, als ich dieses große Angebot von Inter Mailand hatte?
Weit über eine Million Mark hätten Sie verdienen können, schon damals nicht wenig Geld. Aber dass Sie bei Ihrem Verein HSV geblieben sind, war auf Sicht ja ebenfalls eine ökonomisch für Sie nicht unbedingt schlechte Entscheidung. Nein, vielmehr die Frage: Diese ganze Zuwendung erschlägt mich manches Mal – hätte meine Karriere so gesehen nicht auch ein klein wenig anders verlaufen können, etwas ruhiger?
Mit der ganzen Zuneigung bin ich ja schon als kleiner Bengel groß geworden, mit 16 spielte ich bereits in der Ligamannschaft. Klar wird das manchmal etwas viel, besonders für meine Kinder ist das nicht immer einfach gewesen. Aber ich hab mich mit meiner Familie immer wieder auch in die Einsamkeit zurückgezogen.

Ihr Name wird bis heute mit Adjektiven in Verbindung gebracht wie bodenständig, solide, strebsam, anständig, brav. Wenn man sich die Großen des heutigen Fußballs anschaut, dann scheinen inzwischen andere Qualitäten gefragt zu sein.
Ja gut, das ist auch eine Frage der Gesellschaft. Ich bin in kleinen Verhältnissen groß geworden, meine Eltern haben viel Wert gelegt auf Bodenständigkeit. Mein Vater sagte immer: Geld ist nicht alles, mehr als ein Steak kannst du auch nicht essen.
Heute scheinen Egoismus und Gier die bestimmenden Merkmale im Profifußball zu sein.
Gier hab ich zum Glück nie gekannt. Denn Gier, so wie sie uns jetzt auch über den Börsencrash begegnet, ist immer gefährlich. Da muss man aufpassen, auch im Fußball.
Für Spieler Ihrer Generation war Egoismus bildlich gesprochen noch ein Fremdwort?
Für uns galt das Miteinander, sich gegenseitig zu helfen. Nur gemeinsam waren wir stark.
Damals gab es noch keine Ich-AGs auf den Plätzen?
Nee, die gabs nicht. Nur mit einer funktionierenden Mannschaft konnten wir Erfolge erzielen.
Heute scheint manche Mannschaft aus elf Spielern mit elf unterschiedlichen Einzelinteressen zu bestehen.
Das halte ich auch für sehr gefährlich. Aber man kann die Zeiten natürlich nicht vergleichen. Heute haben wir die Entwicklungen durch die Globalisierung. So wie früher wird es nie wieder sein.

Sie stehen auch für die Kunst des anständigen Verlierens. Heute ist es an der Tagesordnung, dass zum eigenen Vorteil Fouls gespielt oder Verletzungen simuliert werden. Gehört Unredlichkeit inzwischen zum Profisport so wie Sand zur Wüste?
Ich kann das so nicht sagen. Aber jeder Profi sollte daran denken, dass sein Verhalten auf dem Platz auch von anderen ihm gegenüber angewandt werden könnte. Man muss für seinen Erfolg hart kämpfen, aber nicht mit unfairen Mitteln.
Gültige Verträge werden gebrochen, Vereine von Spielern oder deren Beratern erpresst. Für Ehrlichkeit scheint es nur noch bedingt Raum zu geben.
Geld regiert die Welt. Wir wissen leider schon seit ein paar Jahren, dass Verträge nichts mehr gelten. Für gefährlich halte ich, wenn jetzt auch schon Trainer so handeln. Was wollen Sie dann den Spielern noch erzählen?
Auch die Gesellschaft hat sich verändert. Früher galt das traditionelle Familienbild, heute leben wir im Zeitalter von Patchwork-Familien. Hat sich der Wertekanon, für den eine Generation wie die Ihrige womöglich steht, zwangsläufig nicht auch längst überholt?
Das Wertemodell meiner Generation kommt nicht wieder, die Zeit ist tatsächlich vorbei. Aber je mehr Werte verfallen, umso gefährlicher wird das. Das ist ein Problem der gesamten Gesellschaft, im Fußball und auch außerhalb davon.
Wenn Fußball nur ein Spiegelbild der Gesellschaft ist – wie müsste er dann auf die augenblickliche ökonomische Krise reagieren?
Indem die Vereine, was Eintrittspreise betrifft, nicht zu gierig werden. Fußball ist und bleibt ein Spiel. Aber wenn man immer mehr und mehr will, dann ist irgendwann die Grenze erreicht. Die Treue der Fans sollte man pflegen.


Fußball war früher ein Arbeitersport, auch Ihr Vater Erwin hatte als Hafenarbeiter seine Karriere so begonnen. Heute handelt es sich um eine Heldenindustrie, Big-Business mit VIP-Logen in teuren Arenen. Wie viel Seele ist noch geblieben?
Sie müssen Fußball anders betrachten. Er ist heute ein Event, eine Erlebniswelt mit allem Drum und Dran vor und nach dem Spiel. Und er ist Geschäft geworden, klar.
Kein Schmerz bei Ihnen? Sie haben neulich mal gesagt, der HSV sei auch ein Verein, nicht nur Geschäft ...
... absolut richtig ...
... was nichts anderes bedeutet als, dass immer auch Herz und Emotion vorhanden sein sollten.
Natürlich muss ein Klub heute auch geschäftlich geführt werden. Aber anders als ein normales Geschäft, da es ja weiterhin ein Verein ist. Seine Seele darf ein Verein nicht verlieren, es geht schließlich um so etwas wie eine Vereinsfamilie. Dieses Leben muss man auch in heutigen Zeiten pflegen.
Eine Aufgabe, die angesichts der Realität wie der Ritt auf einer Rasierklinge anmutet.
Alles und noch mehr. Man kann in einem Verein Entscheidungen treffen, die man für richtig hält. Aber niemand kann vorhersagen, wohin auf dem Platz der Ball letztlich rollt. Fußball boomt, aber wir dürfen die Entwicklung nicht übertreiben. Wir sind jetzt an der Grenze, wo wir aufpassen müssen, dass der Fußball so bleibt, wie er ist. Wir dürfen die Fans nicht überstrapazieren.

In Spanien scheinen inzwischen ganz andere Grenzen zu existieren. Real Madrid hat kürzlich 94 Millionen Euro Ablöse für den Spieler Ronaldo bezahlt, weitere 65 Millionen für Kaka. Auch Bayern München hat seinen Geldspeicher mal eben um schlappe 30 Millionen nur für den Stuttgarter Mario Gomez erleichtert.
Da brauch ich gar nicht drüber zu diskutieren – das ist einfach nur Wahnsinn. Kein Mensch kann so gut Fußball spielen, dass man solche Summen für ihn ausgibt.
Gibt es im Fußball noch so etwas wie eine moralische Dimension?
Ich weiß es nicht, für mich sind das alles utopische Zahlen. Und was Real betrifft: Ich frage mich immer, wie lange die Banken das mitmachen. Aber Real ist auch eine Art Heiligtum im Fußball.
Wie kann man solche Transfer jemandem erklären, der sich seine Dauerkarte vom Mund absparen muss?
Ich kann nur antworten, dass der Fan bislang ja alles akzeptiert. Wenn ich manchmal Forderungen lese, kauft doch den oder den für zig Millionen, dann kommt der Gedanke, dass die Fans mit den Wahnsinnssummen wohl einverstanden sind.
Die 20 Erstligaklubs Spaniens schieben zusammen 3,5 Milliarden Euro Schulden vor sich her. Sollte das dortige System kollabieren, welche Auswirkungen hätte das auch für den Fußball in Deutschland?
Nicht nur in Spanien gibt es überschuldete Vereine, auch in Italien und zum Teil in England ist das nicht groß anders. Wir diskutieren solche Fragen, aber niemand kennt bisher die Antwort. Obwohl ich denke: Wenn ein Verein nicht mehr kann, weil er sich übernommen hat, dann kommt der nächste. In der Bundesliga war es ja auch eine Zeit lang so, dass einige Vereine es übertrieben haben. Andere haben daraus gelernt, inzwischen ist wieder etwas mehr Vernunft eingekehrt.

In Deutschland ist der Fußball mit Einführung der 3. Profiliga neu strukturiert worden. Kritiker sagen, dass es kleineren Vereinen künftig kaum noch möglich ist, nach oben zu kommen. Selbst einem Traditionsverein wie Holstein Kiel ist es nur unter größter Mühe und mit öffentlichen Geldern gelungen, nach dem sportlichen Aufstieg in Liga 3 auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen zu erfüllen.
Es wird künftig manchem Verein Probleme bereiten, die Kosten zu decken, das ist richtig. Ein Verein allein wird in den unteren Ligen nicht mehr das Geld erwirtschaften können, um nach oben zu kommen. Es wird nur noch mit Sponsoren gehen.
Bedauern Sie diese Entwicklung?
Die Vereine beklagen sich. Also muss es wohl nicht sehr gut funktionieren. Es ist schade, wenn alles am Geld scheitert.

Seit zwölf Jahren unterstützen Sie mit Ihrer Uwe-Seeler-Stiftung benachteiligte Menschen. Wen genau?
Wir engagieren uns für seelisch, geistig oder körperlich Behinderte. Außerdem fördern wir den Behindertensport.
Welche Bedeutung hat diese Aufgabe für Sie persönlich?
Leuten zu helfen, die Not haben, macht mich zufriedener und glücklicher. Die Not ist groß im Land, das Geld wird immer knapper. Deshalb kann es nicht genug helfende Stiftungen geben. Wir geben jedes Jahr bis zu 300.000 Euro für wohltätige Zwecke aus.

Sie haben bei vier Weltmeisterschaften gespielt, galten als einer der besten Mittelstürmer der Welt. Wer würde neben Ihnen in ein Allstar-Team der Besten aller Zeiten gehören?
Ach, da gehören so viele rein. Das sollten aber neutrale Beobachter entscheiden, nicht ich.
Oder könnte es auch sein, dass der Uwe Seeler von damals im heutigen Fußballgeschäft umgeben von all den eitlen Selbstdarstellern keine Chance besäße, zu bestehen?
Chancen hätte ich schon auch heute, das würde ich klar sagen. Wir sprachen vorhin darüber - ich bin anders groß geworden als die heutigen Spielergenerationen. Geld allein war mir damals nicht so wichtig, sonst hätte ich ja auch zu Inter Mailand gehen können. Aber mit Geld umgehen kann ich schon. Und nach fünf Jahren hätte ich dann wahrscheinlich ausgesorgt.
... und hätten sich so die jährlich bis zu 50.000 Kilometer ersparen können, die sie statt eines Mailand-Engagements als Besitzer einer Sportartikelagentur neben der aktiven Karriere auf norddeutschen Autobahnen verbracht haben?
Wenn ich das heute einem jungen Spieler erzähle, dann denkt der, ich erzähle ihm was vom Pferd. Wie soll er das auch verstehen? Aber ich bin damit sehr zufrieden gewesen.

Interview: Peter Brandhorst

Info:
Uwe Seeler

gehört zu den erfolgreichsten Spielern, die der deutsche Fußball je hervorgebracht hat. Als einer der besten Mittelstürmer seiner Zeit hat er sich weltweit Anerkennung verschafft. Der heute 72-Jährige stand während seiner 1972 beendeten aktiven Karriere – ungewöhnlich für heutige Verhältnisse – nur für einen Verein auf dem Platz, den Hamburger SV. Seit 1961, als er ein Millionen-Angebot des italienischen Spitzenvereins Inter Mailand ablehnte und stattdessen neben der Sportkarriere die Aufgabe eines Repräsentanten einer Bekleidungsfirma übernahm, gilt er als Inbegriff für Bodenständigkeit. Seeler bestritt 72 Länderspiele und nahm zwischen 1958 und 1970 an vier Weltmeisterschaften teil. Dass er Mitte der 90er Jahre in krisengeschüttelter Zeit die Präsidentschaft seines Vereins HSV übernahm, bezeichnet er heute als Fehler. Seit zwölf Jahren unterstützt Seeler mit einer nach ihm benannten Stiftung benachteiligte Menschen.

Das Interview erschien im Straßenmagazin für Schleswig-Holstein, Heft 160, August 2009.