Vererbte Armut in Deutschland – eine Reportage aus Hamburg

Der ganze Stolz, das große Glück des jungen Malte leuchtet blau und trägt die Rückennummer 2. „Gib sofort was Süßes, sonst setzt es Saures“, hatte er vorhin den mit Kuchen erschienenen Reporter begrüßt. Und jetzt, eine Mohnschnitte später, kreist der Achtjährige ganz unruhig um den Besucherstuhl herum. „Also“, sagt Malte schließlich und pumpt noch rasch ein paar Kubikmeter Luft durch die Lungenflügel, „was meinst du wohl, was ich unter dem Sweatshirt anhabe?“ Dann hebt er das Shirt, seine Augen strahlen, und zum Vorschein kommt ein gebrauchtes, blaues Fußballtrikot, Fanartikel seines Lieblingsvereins HSV. „Hat mein Bruder vor ein paar Tagen im Bus gefunden“, sagt Malte, „heute und morgen darf ich es tragen, dann ist er wieder dran.“

Es ist später Nachmittag, gleich halb sechs, Malte ist aus Schule und Tagesgruppe zurück zu Hause. Und nachdem die Sache mit dem Trikot geklärt ist - wenigstens leihweise das erste in seinem Leben -, kreuzt der Kleine rastlos durch die Wohnung. Hier was hochheben, da nur gucken. „Und Schule? Wie war es da?“, will die Mutter wissen. Malte irrt weiter schweigend umher und zuckt mit den Schultern. War ganz ordentlich, könnte das heißen, oder auch: Schule interessiert mich nicht. Der Vater sagt: „Wir können unsere Kinder ja nicht so unterstützen in schulischen Dingen. Weil wir diese Stoffe selbst nicht können.“

Eine Familie in einem neungeschossigen Plattenbau an Hamburgs nördlicher Stadtkante. Wer in dieser Siedlung wohnt, für den hat Glück zumeist eine besondere, ganz eigene Bedeutung. „Ein Glück, dass es die Tafel gibt, wo man kostenlos Lebensmittel bekommt“, freut sich die Mutter. „War schon Glück, dass mein Bruder das Trikot gefunden hat“, findet Sohn Malte, der im Alltag einen anderen Namen trägt. „Jedes Wochenende fackeln hier die Müllcontainer“, klagt der Vater. „Nein“, entgegnet die Mutter, „zum Glück nicht jedes Wochenende, manchmal passiert auch nichts.“ Nebenan das Kinder- und Familienzentrum beantwortet im Rahmen der Schwangerenberatung „Fragen zu finanziellen Hilfen“. Auf dem nächstgelegenen Busbahnhof preist ein Pfandleiher Kleinkredite an: „2 x Kredit – 1 x Zinsen. Sonderaktion für alle Neukunden“.

Eine in einem reichen Land lebende Familie – geben wir ihr den Namen Ehling –, die aus eigenem Erleben nur die Armut kennt. Und diese von Generation zu Generation als Erblast weiterreicht, dabei stets auf unteren Bildungskompetenzen verharrend. Ein sich über die Zeit verfestigender Teufelskreis, aus dem Kinder und Kindeskinder wohl nur immer schwerer einen Ausweg finden werden. Während die Alten sich früher noch mit einfachen Jobs über Wasser halten durften, finden sie wie auch die Jungen heutzutage oft nicht einmal mehr vorübergehend Zugang zu auch nur gering entlohnter Arbeit.

Vater Ehling, 45 inzwischen, abgebrochene Hauptschule, danach ungelernte Verkaufsarbeit hier und da, ist dauerarbeitslos seit über fünf Jahren. Seine zwei Jahre ältere Frau, „bis zum Ende der Schulzeit“ Förderschülerin, konnte bis vor 15 Jahren als ebenfalls ungelernte Verkaufskraft ein wenig Geld dazuverdienen. Inzwischen ist sie schwer krank und 70 Prozent behindert. Aufgewachsen sind beide in Familien, in denen damals schon auch ihre Eltern mit einfacher Arbeit durchs Leben gehen mussten – als Putz- oder Packkraft in Supermärkten, als Wachmann oder als Hilfskraft, die einem Hausmeister sauber machen half.

Und heute, die eigenen Kinder, Malte mit seinen drei Geschwistern? „Ohne Realschule läuft mittlerweile ja nichts mehr“, sagt der Vater. Und erzählt dann von Förderschulen und pädagogischen Sondereinrichtungen, zwischen denen seine Kinder die Jahre über pendeln.

Es scheint paradox, ist aber Realität: Während Hamburg, wirtschaftliche Boomtown und Stadt der meisten Millionäre, immer reicher wird, steigt zugleich die Zahl der armen Menschen, vor allem die der Kinder. 63.500 unter 18-Jährige leben laut vergangenen Juli von der Sozialbehörde herausgegebenem 3. Kinder- und Jugendbericht inzwischen von Hartz IV. Eine Quote von 24 Prozent – jedes vierte Hamburger Kind ist offiziell arm. Ihre Zahl steigt jährlich, laut Zukunftsrat Hamburg bereits seit gut einem Vierteljahrhundert. Einzige Ausnahme: 1991. 1981 waren noch gut 10.400 Kinder auf staatliche Unterstützung angewiesen, 1996 schon knapp 41.000. Auch Familie Ehling lebt von Hartz IV. Abzüglich Miete, Strom und Telefon verbleiben knapp 600 Euro im Monat für Eltern und zwei noch im Haushalt aufwachsende minderjährige Kinder.

Hamburg als sozial zunehmend gespaltene Stadt, krasse Armut neben großem Reichtum. Die Sozialwissenschaftlerin und emeritierte Professorin Ursel Becher, früher Mitarbeiterin verschiedener EG-Armutsprojekte und bis 1992 fünf Jahre lang Jugend- und Sozialdezernentin im Hamburger Bezirk Eimsbüttel, hat 2005 eine umfangreiche Studie zur Kinderarmut in Hamburg vorgestellt. Sie spricht von „Infantilisierung der Armut“ und von einer starken Ausgrenzung der Betroffenen an die Ränder der Stadt. Arbeitslosigkeit und schlechte Bildungschancen sieht sie als Schlüsselrisiken, um dauerhaft in Armut abzugleiten.

Ursel Becher verweist auf die Wirtschaftsstruktur der Stadt. In den vergangenen 20 bis 30 Jahren seien allein im Hafen und dessen Umfeld rund 200.000 Arbeitsplätze verloren gegangen, neben handwerklicher Arbeit oft einfache Jobs. Nachgewachsen ist neben dem Dienstleistungssektor vor allem technisch anspruchsvolle Arbeit in Bereichen wie Logistik oder Informatik. Aufgaben, auf die Schulabgänger ohne Abschluss oder mit dem einer Hauptschule nicht vorbereitet sind. Dennoch wächst ihre Zahl über die Jahre, bei gleichzeitig steigendem Facharbeitermangel.

Diese Jugendlichen - und ihre Familien - sind die Bildungsverlierer von heute, zunehmend ohne Chance auf materielle oder auch kulturelle Teilhabe, oft in ausgegrenzten Umfeldern lebend, dabei ohne Selbstvertrauen und mit Fluchttendenzen bis hin zu Krankheit oder aggressivem Verhalten. „Die Gesellschaft vermittelt ihnen, nichts wert zu sein“, sagt Professorin Becher, „sie müsste aber Mut machen, ihnen etwas zutrauen.“ Politik insgesamt sollte sich zur Aufgabe setzen, die Vorstellungen dieser Menschen abzufragen - beispielsweise dazu, wie sie ihren Wohnbereich, „äußerste Form der Ausgrenzung“, gestaltet sehen wollen. Und das Schulsystem selektiere nicht nur nach unten. Es setze auch voraus, dass Eltern ihre Kinder unterstützen, was viele nicht können.

„Alle Eltern wollen, dass ihre Kinder in der Schule Erfolg haben“, sagt Gerald Pump-Berthé, „sie meinen es gut, sind jedoch oft überfordert.“ Pump-Berthé leitet seit 2000 eine Schule - Klassen 0 bis 10 - im Arbeiter- und vor allem Arbeitslosenwohnviertel von St. Pauli, von wo die Armut noch nicht hinaus an den Stadtrand verdrängt ist. Rund 85 Prozent seiner 330 Schüler/innen – viele mit Migrationshintergrund - leben von Hartz IV oder auf vergleichbarem Niveau. Bildungsarmut bedeute nicht nur, daheim keine Bücher zu lesen. „Arm zu sein heißt auch, die Welt nicht verstehen, nicht begreifen zu können. In der Vorschule fangen wir mit dieser Vermittlung bei Null an“, so Pump-Berthé.

Einmal sind Lehrer mit Kindern gleich um die Ecke vom Schulhof gegangen und haben auf Elbe und Hafenbecken geschaut: „Was ist das? Ein Fluss? Ein Meer?“ Viele Kinder, sagt der Schulleiter, kannten die Antwort nicht. Die Gesellschaft habe bisher versäumt, diese bildungsarmen Familien ernst zu nehmen. „Aber wir müssen sie mit ihren Nöten wahrnehmen, mit ihnen reden“, das betreffe auch die Schulen selbst: „Eigentlich müssten wir zusätzlich Elternschule anbieten.“

Malte, der 8-Jährige aus der Nordstadt, ist erst in seinem dritten Schuljahr – und steckt auch bereits ganz tief fest. Im Sommer ist er aus seiner Klasse herausgenommen worden, jetzt wird er mit einer Handvoll weiterer besonders auffälliger Kinder separat pädagogisch begleitet. „Er hat immer geschimpft“, sagt die Mutter, ist im Unterricht durch die Klasse gesprungen und hat andere Kinder und Lehrer angegriffen. „Mitten im zweiten Schuljahr fing das an“, glaubt die Mutter und weiß nicht so recht, warum: „Wir haben uns nur gewundert, warum er so hyperaktiv wurde. Aber aus ihm kriegt man ja nichts raus.“ Der Vater sagt: „Die Kinder machen uns schon dafür verantwortlich, dass wir arm sind und nur das Allernötigste kaufen können.“ Selbstwertgefühl, Frustrationstoleranz – es scheint, dass Malte davon noch nicht viel besitzt.

„Montags sind sie schlechter drauf als Freitags“, erzählt der Schulleiter auf St. Pauli. Dann kommen sie müde oder aggressiv aus dem Wochenende zurück, „gefüttert von den digitalen Medien“, springen hyperaktiv herum oder können sich nur mit Mühe gerade halten. Manche müssen sich raufen oder prügeln. „Ein durch Angst gespeistes Aggressionsverhalten“, nennt dies Pädagoge Pump-Berthé, „etliche Kinder werden zu Hause geschlagen.“ Schulische Präventionsprogramme zeigen Erfolge, „aber die Aggressionen bleiben natürlich da.“ Schul-Sozialarbeiter Axel Wiest fügt hinzu: „Ich-zentrierte Kinder, es fehlt soziales Know-how.“

Auch die Eltern des kleinen Malte bleiben oft hilflos im Bemühen, eigentlich doch helfen zu wollen. Sie frühstücken jeden Morgen gemeinsam, jetzt „bei Kerzenlicht und manchmal auch mit einem gekochten Ei.“ Vom ältesten Sohn, dem inzwischen bei einer Zeitarbeitsfirma jobbenden und in eigener Wohnung lebenden 22-Jährigen, erzählen sie, dass der nach einer Odyssee durch Grund-, Förder-, Haupt- und Realschulen irgendwann „wohl seinen Realschulabschluss geschafft hat. Sonst hätte er uns das ja gesagt.“ Sonst hätte er es ihnen gesagt? „Ja“, antwortet der Vater, „zwei oder drei Jahre war unser Sohn schon auf der Realschule, aber wir haben ihn nie danach gefragt, wir kennen uns damit ja nicht aus.“ Sie wollen unterstützen, schaffen es aber nicht in ausreichendem Maße. Das darf man bedauern, aber kann man es ihnen auch vorwerfen? Immerhin hat es die Mutter vor ein paar Monaten geschafft, beim Jugendamt sozialpädagogische Nachmittagsbetreuung für Malte zu bekommen.

Manch anderes wird diesen Eltern, vielleicht auch denen von Malte, dem kleinen Jungen im blauen Fußballtrikot, vorerst wohl nicht so rasch gelingen. Der St. Pauli-Schulleiter beobachtet in seinem beruflichen Alltag, „dass die verschlungenen Pfade des Bildungssystems für solche Eltern nur schwer zu verstehen sind.“ Schulische Entscheidungen würden nur selten hinterfragt, je länger Schule dauere, als umso erfolgreicher werde sie von den Eltern wahrgenommen.

Einer der Jungs von St. Pauli musste vor ein paar Jahren ein Zeugnis mit nach Hause nehmen, in dem nur das Kürzel „k. B.“ stand - keine Benotung möglich, er hatte zu oft geschwänzt. Die Mutter war dennoch lange Zeit mächtig stolz auf den Sohn. Mit „k. B.“ sei nämlich, hatte der ihr erklärt, „Klassenbester“ gemeint.

Peter Brandhorst

Die Reportage erschien in den Zeitschriften Erziehung und Wissenschaft, Heft 12/2007 und Publik-Forum, Heft 1/2008.