Reportage „Gewalt an Schulen“
Man muss nicht lange warten an diesem Vormittag, die Frage ist kaum zu Ende formuliert, und schon fegen einem die Antworten so geschwind um die Ohren, wie Formel 1-Piloten über Rennstrecken rasen. Was für sie Gewalt sei, hatte Lehrer Joachim Kruse von den Schülern der BVJ-Klasse wissen wollen, und ob sie während ihres Schullebens selbst schon in welche verwickelt waren. „Naklarjasicher“ schallt es jetzt im Chor zurück, „erpressenprügelnabziehen“ oder „auchmitworten:ichfickedeinemutter“. So pflügen sich die Schüler noch eine Weile robust durch ihre Sprache, bis Lehrer Kruse auch nach dem Warum forscht. Und Dragan (alle Schülernamen verändert), ein Jugoslawe, schaut jetzt einen Moment lang drein, als wolle ihm gerade jemand das frühherbstliche Wetter da draußen neu erklären - dass es so wie zurzeit ja bloß eine Laune der Natur sei, eigentlich liege jetzt immer meterhoch Schnee in Hamburg. „Wiesowarum?“, fragt der 16-Jährige irritiert zurück, „is klar doch eigentlich – aus Bock, bringt Spaß.“

Man will etwas erfahren über Gewalt an Schulen, will mit Lehrern und Schülern über ihre Erlebnisse sprechen, und hier an einer Gewerbeschule im Hamburger Stadtteil St. Pauli ist man ohne Umwege gleich mitten drin im Thema. Elf Jungs, dazu ein Mädchen, sitzen an den Tischen und sollen fit gemacht werden für den Hauptschulabschluss, eine Handvoll weiterer ist auch heute erst gar nicht gekommen. „Viele geben nicht zu erkennen, etwas lernen zu wollen“, sagt Lehrer Kruse, „sie wollen nur Scheiß machen.“ Darüber, und über mögliche Folgen, will er mit ihnen reden, und als die Frage aufkommt, wer von den Zwölfen schon jemals von Polizei abgefischt wurde, schießen sechs Hände pfeilschnell und synchron nach oben. Fritz, ein 17-Jähriger, dessen stierer Blick schon die ganze Zeit die Titelseite einer Gratiszeitung fixiert, gehört nicht dazu, doch als sich nach der nächsten Pause ein weiterer Besuch als Polizeibeamter vorstellt, um das Thema zu vertiefen, stöhnt er leise vor sich hingrummelnd: „Alter Schwede, ich glaub, ich bin hier an der falschen Schule.“ Und Dragan ruft quer durch den Raum: „Den kenn ich doch schon – von der Wache 16.“

Es sind vor allem die unteren Schulformen, die BVJ’s oder Fachschulen an den berufsbildenden Einrichtungen und die Förder- und Hauptschulen, an denen Schülergewalt ein großes Thema ist. „In den BVJ’s müssen wir unglaublich viel Kraft aufbringen, um die Jugendlichen einigermaßen zu kanalisieren“, sagt Lehrer Kruse. Und in der behördlichen Hamburger Beratungsstelle Gewaltprävention beschreibt es der kommissarische Leiter Peer Kaeding so: „Klassen mit Kindern aus Familien mit geringem sozialen Status sind am Belastetsten“, jeden Tag gebe es dort massive Konflikte. Zugleich warnt Psychologe Kaeding jedoch davor, spektakuläre Einzelfälle zu generalisieren. „Die reale Situation an den Schulen steht insgesamt in keinem Verhältnis zu einzelnen Pressemeldungen.“

Tatsächlich nimmt an den Schulen die Gewalt seit 1998 ab, nachdem sie zuvor stark angestiegen war. Eine bereits vor zwei Jahren an der Erlanger Universität und im Auftrag des BKA von Professor Friedrich Lösel veröffentlichte Studie kommt ebenso zu diesem Ergebnis wie jüngst das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN). Dessen Direktor Professor Christian Pfeiffer: „In der Öffentlichkeit bemerkt das nur kaum jemand.“ Der Bundesverband der Unfallkassen, bei dem alle deutschen Schüler versichert sind, hat in einer vergangenen Mai veröffentlichten Untersuchung festgestellt, dass es 2003 auf tausend Schüler bezogen bundesweit 11,3 Unfälle als Folgen von Gewalttaten an Grund-, Haupt-, Sonder- und Realschulen sowie Gymnasien gab (Gesamtzahl der Unfälle durch Raufereien: 93.295) – 1993 lag die Rate noch bei 15,5. Am stärksten zurückgegangen ist die körperliche Gewalt unter Hauptschülern – von 48,6 auf 32,8 pro Tausend. Dennoch passieren dort weiterhin mit Abstand die meisten Raufunfälle durch aggressives Verhalten, gefolgt von Förder- (18,4) und Realschulen (15,5), Gymnasien (5,7) und Grundschulen (4,9). Die Berufsschulen waren in die Untersuchung nicht mit einbezogen. Auf Nachfrage von e&w heißt es, dass auch dort die Rate gesunken ist – von 2,0 auf 1,85 (2003 gesamt: 5.043) Die im Vergleich insgesamt deutlich niedrigere Rate wird damit erklärt, dass sich das Problem vor allem auf die BVJ’s konzentriere und in den Ausbildungsklassen mit vielen älteren Abiturienten kaum Gewalt vorkomme.

In der BVJ-Klasse rutscht Yusuf, ein schmächtiger 16-jähriger Türke mit Goldkettchenimitaten um Hals und Armgelenken und ungefähr einer halben Tonne Haarwachs in der akkurat aufgebürsteten Hahnenkammfrisur, schon die ganze Zeit auf seinem Stuhl hin und her wie ein unruhiges Zicklein am Strick. Vor der Brust hat er einen MP 3-Player wie einen Orden hängen, und die Ansprachen von Polizist und Lehrer zum Thema Gewaltprävention scheint er ungefähr so zu schätzen wie die bloße Vorstellung, das nächste Wochenende allein zu Hause zu verbringen, nur mit ein paar Videos in chinesischer Sprache über Erdkrustenverschiebungen. Erst als Polizist Jörg Dittmer, Jugendbeauftragter im zuständigen Bezirk Mitte, über Antiaggressionstraining spricht, wird er ruhiger. Dort saß er nämlich auch schon mal im Zentrum eines Gesprächskreises, jetzt kann er den Anderen engagiert und mit Stolz von seinen Erfahrungen berichten.

Wer dort hingeschickt wird, muss schon ordentlich was auf seinem Zettel gehabt haben, überlegt der Polizeibeamte Dittmer später bei einer Tasse Kaffee. Ein paar Schlägereien waren das, hatte Yusuf in der Schule erzählt, mal andere Schüler abziehen, und der Schulleiter an seiner früheren Schule hat auch „die Faust bekommen, der provozierte immer.“ Wir wärmen uns auf bei solchen Sachen, hatte Yusuf außerdem gesagt, „man braucht das auch außerhalb der Schule, um sich im Leben zu verteidigen. Wir sind nicht wie die Deutschen, die sagen bloß Mama und rennen zur Polizei.“ – „Die herausragenden Fälle von Gewalt an den Schulen haben oft einen Migrationshintergrund“, sagt Polizist Dittmer beim Kaffee.

Und werfen dann manchmal Schatten, die leicht den Blick aufs Gesamte verstellen. Am häufigsten ist an Schulen verbale Gewalt zu beobachten, so die BKA-Studie. Mädchen sind daran ähnlich intensiv beteiligt wie Jungen. Körperliche Gewalt geht größtenteils von 13- bis 16-jährigen Jungen aus, die Unfallkassen-Studie beziffert den männlichen Anteil insgesamt auf rund 70 Prozent. Die meisten haben nur einmal oder selten einen Mitschüler geschlagen, ein kleiner Schülerkern von etwa fünf Prozent zeigt regelmäßig körperliche Aggressionen oder drangsaliert andere. Gewalttätige ausländische Jungen sind im Einzelfall zwar kompromissloser in der Wahl ihrer Mittel, insgesamt lassen sich zwischen deutschen und nichtdeutschen Jugendlichen jedoch keine bedeutsamem Unterschiede feststellen. Wenn an der Schule geprügelt wird, dann geschieht das zumeist auf dem Pausenhof. Und: Wer sich dort hervortut, der schlägt sich auch sonst entsprechend durchs Leben. Jugendgewalt ist kein isoliert schulisches Problem, öfter noch findet sie außerhalb der Bildungseinrichtungen statt.

Professor Lösel spricht in seiner BKA-Studie von einem „erhöhten Risiko der Aggression und Delinquenz“ bei Kindern, die aus Unterschichtenfamilien stammen. Sie erlebten zu Hause weniger emotionale Wärme und Streit, mehr Strenge und Unbeständigkeit in der Erziehung. Ihnen fehle soziale Kompetenz, sie seien impulsiver als andere. Aggressive Schüler hatten schlechtere Noten, mussten öfter eine Klasse wiederholen und schwänzten mehr als andere. KFN-Direktor Professor Pfeiffer hebt zudem die „Verwahrlosung der Medienkultur“ durch Gewalt- und Action-Filme sowie die elterliche Gewalt in der Familie hervor als zentrale Einflussfaktoren für das Entstehen von Jugendgewalt. „Häusliche Gewalt“, berichtet auch Polizist Dittmer seine Eindrücke, „ist oft nicht von der Hand zu weisen.“

„Unsere Gesellschaft hat das Jugendgewalt-Thema in der Vergangenheit zu sehr verschlafen“, sagt Peer Kaeding von der Hamburger Beratungsstelle für Gewaltprävention. Zentral wichtig sei, bei deutschen wie ausländischen Jugendlichen die herrschende Gruppennorm zu bekämpfen, wonach Gewalt im Grundsatz anerkannt wird. „Wir haben uns um die schlimmen Jungs gekümmert, aber nicht genügend um die stillen“, so Kaeding, „denn sie sind es, die nach einer Schlägerei sagen: Vielleicht hätte er nicht ganz so doll hauen sollen, aber zuschlagen musste er schon, er ist ja schließlich in seiner Ehre verletzt worden.“ Und trotz aller Präventionsprogramme geschehe an den Schulen noch zu wenig. Die Lehrer stünden unter großem Druck, den Bildungsauftrag zu erfüllen, für den Umgang mit den immer größer werdenden sozialen Problemen an den Schulen fehle hingegen noch zu oft ein klares Konfliktregelungsmanagement. „Schon an den Unis und im Referendariat findet zu wenig Ausbildung statt zum Umgang mit Gewalt“, so Psychologe Kaeding, „wir bieten bei uns die Unterstützung durch einen Deeskalationstrainer an - dem rennen die Lehrer die Bude ein.“

Und noch etwas bereitet Kaeding Sorge. Seit etwa einem Jahr beobachtet er eine Zunahme der Gewalt gegen Lehrer. An Hamburgs 500 Schulen etwa ein Fall pro Monat, über die Gründe kann er bisher nur spekulieren. Vielleicht, weil bei einigen deklassierten Jugendlichen die Barrieren immer weiter sinken. Vielleicht auch wegen der sich verändernden Alterstruktur der Kollegien und weil die Jugendlichen ahnen, dass Schülerschläge von älteren Kollegen als noch größere Demütigung erlebt werden wie von jüngeren.

Yusuf, der junge Pfau aus dem BVJ, hat inzwischen sein kleines Schminktäschchen auf dem Tisch ausgepackt und pudert sich erst mal fleißig Nase und Backen, bloß nichts dem Zufall überlassen, wenn es gleich nach Schulschluss wieder hinaus geht ins richtige Leben. Dort hin, wo die Mädchen sind mit ihren manchmal großen Brüdern und wo irgendeiner von ihnen bestimmt mal wieder zuhaut, „aus Bock nur oder weil der da mein Mädchen so komisch angeschaut hat.“

Man müsste Flirtbörsen aufziehen, dann würden die Jungs ruhiger werden, sinniert der Polizist über seiner Tasse Kaffee, „sobald sie eine feste Freundin haben, drehen sich viele raus aus dem Gewaltkreis.“

Peter Brandhorst

Erziehung & Wissenschaft, Zeitschrift der GEW, November 2005