Jugendliche auf dem Ausbildungsmarkt im Abseits

Manchmal gelingt es ihm tatsächlich, wenigstens ein paar kurze Augenblicke lang die Hände nicht wie Scheibenwischer unruhig auf und ab zu schieben. Dann sitzt er still auf dem Stuhl, und es scheint, als habe er es gerade für einen Moment aufgegeben, sich gegen irgendetwas zu wehren. Vor drei Tagen hat Nico, der 16-Jährige, der wie alle Jugendlichen in dieser Geschichte eigentlich auf einen anderen Namen hört, die Förderschule in Bremen-Walle mit dem Abschlusszeugnis der 10. Klasse verlassen. Heute ist er noch mal zurückgekehrt, um den Leuten von der Gewerkschaftszeitung ein wenig über seine weiteren Ziele zu erzählen.

Vielleicht Tischler wolle er mal werden, hat er vorhin gesagt, dabei noch vorlaut und unruhig zappelnd, doch zunächst wird er in eine Maßnahme, ein Berufsgrundbildungsjahr wechseln. „Da mache ich dann meinen Hauptschulabschluss nach“, tönt Nico, „und dann lerne ich einen tollen Beruf.“ Neben ihm sitzt David, auch gerade nach der Zehnten abgegangen. „Berufsausbildung?“, fragt David, „wo denn?“ Und Nico poltert schnell über zu viele Kuffmucken im Viertel, wie türkische Jungs in seinem Denken heißen, „die haben alle Connection, die nehmen uns immer die Plätze weg.“ Stefanie Höfer, die Schulleiterin, will nun wissen, was man denn selbst so tun könne, um vielleicht ebenfalls einen Ausbildungsplatz zu finden. „Sich drum kümmern“, ruft David, Nico sagt: „Aufmerksam und fleißig sein.“ Die Schulleiterin antwortet: „Ihr wisst also doch, wie es gehen könnte“, und jetzt hält sich Nico tatsächlich mal ein paar Augenblicke lang nachdenklich und ruhig auf dem Stuhl.

Man ist nach Bremen gefahren, um sich bei denjenigen Jugendlichen umzuhören, die nach ihrer Schulzeit vermehrt im Abseits landen, ohne große Chance auf Ausbildung oder Arbeit. Förderschüler beispielsweise, und später wird man sich auch noch an einer Gesamtschule mit Hauptschulabgängern unterhalten. Bremen also zum Ende des vergangenen Schuljahres, und es hätte wohl auch jede andere deutsche Stadt sein können, erzählte Hoffnungen und Enttäuschungen würden sich vermutlich gleichen, sich nur unterscheiden durch andere Namen.

Sechs Mädchen und neun Jungen haben diesen Sommer die Bremer Förderschule nach der 10. Klasse verlassen, niemand hat einen Ausbildungsplatz gefunden, alle müssen zunächst Unterschlupf suchen in Fördermaßnahmen. Zuletzt vor zwei Jahren konnten zwei Jungen dieser Schule direkt im Anschluss eine Ausbildung beginnen, über die gesamten vergangenen fünf Jahre waren es gerade vier von knapp hundert. „Die Situation wird immer schlimmer“, klagt Schulleiterin Höfer, „wenn es die anschließenden Maßnahmen nicht gäbe, dann säßen alle sofort auf der Straße.“ Aber auch mit diesem weiterqualifizierendem Aufschub finden später nur fünf bis zehn Prozent von ihnen eine Ausbildung, „der Rest wird bestenfalls Hilfsarbeiter oder landet sein Leben lang bei der Sozi.“

Es sind die im Leben an den Rand gedrückten, die meist zuvor schon kaum eine Chance besaßen, die „Spitze des Eisbergs“, wie die Schulleiterin sagt, „über die die Politik gerne den Mantel des Schweigens hängt. Aber es gibt diese Klientel, zum Beispiel bei uns.“ Und wenn die Pädagogin versucht, diese Jugendlichen in ihrem Fleiß zu motivieren, ihnen Mut einredet, dass sie vielleicht doch eine Chance auf Ausbildung besäßen, dann geschieht das vor allem, um ihnen ein wenig ihr verbliebenes Selbstbewusstsein zu stützen. Große Hoffnung hat hier kaum jemand.

Vielleicht Hanna, die Mitte 17-Jährige? Auch sie hat vor ein paar Tagen an der Bremer Förderschule ihr Abschlusszeugnis ausgehändigt bekommen. Ganz schüchtern kommt sie nun daher und sieht doch sehr glücklich aus. In den Armen hält sie Leo, ihren siebenmonatigen Sohn, dabei ist sie selbst noch eher ein großes Kind. Leos Vater ist „weg“, sagt Hanna lapidar, manchmal hat sie den Kleinen mit in den Unterricht bringen müssen. Ihre Pläne nach der Schule? „Weiß nicht – vielleicht - mal sehen“, antwortet sie, zunächst wird sie eine Hauswirtschaftsschule besuchen, „keine Ahnung, was dann kommt. Vielleicht Kindergärtnerin?“

Hanna gehört zu der größer werdenden Gruppe der weiblichen Jugendlichen, die noch während der Schulzeit oder gleich danach Kinder auf die Welt bringen. Drei Mädchen, mit denen sie früher zusammen in den Unterricht ging, haben die Förderschule bereits nach der 9. Klasse als junge Mütter verlassen. Und von den neun Mädchen, die im Vorjahr nach der Zehnten abgingen, wurden fünf schnell schwanger, „fünf jedenfalls, von denen wir es wissen“, schränkt Stefanie Höfer ein. Das sei kein isoliertes Einzelphänomen im Stadtteil Walle, berichtet die Leiterin, „wenn ich Kollegen anderer Förderschulen nach jungen Müttern frage, dann schießen sofort alle Finger hoch.“

Jugendliche wie Hanna suchen so Anker zu werfen in einer Welt, die ihnen ansonsten unwirtlich und perspektivlos erscheint. Die Suche nach Liebe, die viele bisher nicht kannten, nennt die Schulleiterin als Grund, ebenso die ersehnte Statusverbesserung als Mutter und auch die staatliche Versorgung. Wer sich um sein eigenes kleines Kind kümmern kann, hofft, eine Zeit lang nicht von der Sorge um Ausbildung oder Arbeit getrieben zu werden. „Man müsste viel früher an die Familien ran gehen“, sagt Stefanie Höfer, „den Jugendlichen fehlt jegliches Realitätsbewusstsein.“

Den Eltern oftmals wohl auch. Etliche sind hier in Walle von der Schule kaum noch erreichbar, „teilweise kennen wir die nicht mehr.“ Nicht nur, dass die Anforderungen in Ausbildung und Beruf steigen und schon dadurch vielen dieser Jugendlichen die Möglichkeit späterer Teilhabe genommen ist. Auch die häusliche Unterstützung wird immer geringer. Der 16-jährige Nico mit seinen discochicen und eidotterblonden Haarsträhnen, die er wie einen feuchten Mopp über dem ausrasierten Nacken festgegelt hat, sagt, „ein Zuhause hab’ ich nicht mehr, ich penn’ jetzt bei Kollegen.“ Wenn er Geld braucht, läuft er zur Oma, „meine Alte hat nur Schulden. Die will, dass ich ihr auf meinem Namen ein Girokonto eröffne. Dann kann sie Premiere abonnieren“, dort läuft 24 Stunden live Big Brother.

Augenblicke des Lebens, die oft mit beiläufigen Worten beschrieben werden im Tonfall größter und wohl über Jahre gelernter Selbstverständlichkeiten wie: Heute gab’s Toast und Tee zum Frühstück. Einblicke in gesellschaftliche Wirklichkeit, die zugleich eine Vorstellung ermöglichen über sich auch in der Zukunft bietende Chancen.

„Früher konnte man sagen: wenn du gute Noten bekommst, dann hast du eine Chance auf einen Ausbildungsplatz“, erzählt Volker Haase, „heute muss man fragen: was nutzt es?“ Haase ist stellvertretender Leiter einer Gesamtschule im nördlichen Bremer Stadtteil Lesum. Im Schnitt finden dort bloß noch etwa zehn Prozent derjenigen, die mit einem Hauptschulabschluss abgehen, anschließend auch einen Ausbildungsplatz. Diesen Sommer haben 19 Jugendliche die 10. Klasse verlassen, zwei ohne, alle anderen mit erweitertem Hauptschulabschluss. Ein Mädchen lernt nun Hotelfachfrau, ein Junge Straßenbauer. „Der Verdrängungswettbewerb ist ganz stark“, sagt Haase, „es gibt Tischlereien, die setzen mittlerweile Abitur voraus“. Eine Selbstverpflichtung der Betriebe sei nötig, „denn wenn die Nachfrage größer ist als das Angebot, dann bleiben auch die Guten auf der Strecke. Für Hauptschüler ist heute ein Ausbildungsplatz wie ein großes Los.“ Der Stellenmarkt bietet ihnen inzwischen ungefähr so viel Auswahl wie ein Krämer nach erfolgreichem Ausverkauf vor der Geschäftsaufgabe oder wie die deutsche Fußballnationalmannschaft Chancen auf den Gewinn der nächsten Weltmeisterschaft besitzt.

„Sehr problematisch“ sei die Situation der Hauptschüler, sagt der Sprecher der Bremer Arbeitsagentur, „eine eindeutige Einschätzung.“ Bremens Berufsberater arbeiten längst zweigleisig. „Wir versuchen noch, ihnen Ausbildung zu vermitteln“, so der Sprecher, „empfehlen jedoch zugleich, sich bei weiterführenden Berufsbildungsmaßnahmen anzumelden.“ Ende vergangenen Juni waren in Bremen insgesamt rund 4850 freie Ausbildungsstellen gemeldet, gegenüber dem Vorjahr ein weiteres Minus von 9,2 Prozent. Die Zahl der gemeldeten Bewerber stieg gleichzeitig um 2,2 Prozent auf knapp 6600. Die Ausbildung zur Friseuse oder zum Mechaniker setze inzwischen „mindestens“ den Realschulabschluss voraus. Wem zudem Grundkenntnisse in Mathe oder Deutsch fehlen, habe eh kaum eine Chance. Überproportional betroffen sind Jugendliche mit Migrationshintergrund. Nur zehn Prozent der Hauptschüler, die in Bremen noch einen Platz in der dualen Berufsausbildung finden, sind Ausländer. Zuvor an den Hauptschulen liegt ihr Anteil bei rund 25 Prozent.

Bundesweit waren im Sommer 430.500 freie Ausbildungsstellen gemeldet (5,4 Prozent minus) bei 647.600 registrierten Bewerbern (plus 2,4 Prozent). Die tatsächliche Lehrstellenlücke dürfte hingegen größer sein. Das zum Berliner Bildungsministerium gehörende Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) hat vergangenen Herbst darauf verwiesen, dass die Nachfragedefinition „zu eng“ gefasst sei. Nicht mitgezählt würden diejenigen, die in berufsvorbereitenden Maßnahmen parken oder schon bei der Arbeitsvermittlung gemeldet sind, nachdem sie bereits zuvor erfolglos eine Lehrstelle suchten. Ergibt ein Plus, so das BIBB, von weiteren 150.000.

Für Jugendliche auf den unteren Sprossen der Bildungsleiter ist die Ausbildungsplatzsuche der oft vergebliche Versuch, Kreis und Quadrat in Übereinstimmung zu bringen. Etliche bauen inzwischen auf betriebliche Praktika. „Hauptschüler“, sagt Erika Bosecker, stellvertretende Leiterin der Allgemeinen Berufsschule Bremen, einer speziellen Einrichtung für Benachteiligte, „haben nur noch Chancen, wenn die Betriebe sie vorher kennen gelernt haben. Dann können die sich die Besten raussuchen.“

An der Gesamtschule in Bremen-Lesum berichten die Pädagogen, dass inzwischen ein großer Teil der schulischen Arbeit der Frustbewältigung diene. „Wir müssen die Leute auffangen“, sagt Jahrgangsleiterin Barbara Gedaschke, „da ist viel Wut und Angst vorhanden, und Selbstwertgefühl geht verloren.“ Nicole, eine 17-Jährige, die jetzt zunächst eine Berufsfachschule besucht, beschreibt es so: „Da hängt man sich rein und möchte was machen. Und dann kommt man da doch einfach nicht dran.“ Das weckt Zweifel, sagt Nicole, „man macht sich Gedanken über sich selbst, ob man überhaupt gut ist und so.“ Von einer Freundin weiß sie, die habe mehr als 30 Bewerbungen geschrieben, ohne Erfolg.

„Irgendwann“, sagt Nicole, „war sie am Boden zerstört. Sie weiß ja nicht mehr, was sie sonst noch machen soll.“

Peter Brandhorst

Erziehung & Wissenschaft, Zeitschrift der GEW, September 2004