Ein Blick hinter Knastmauern

Wenn hinter einem die ersten Türen bereits wieder dumpf klackend in die Schlösser geschlagen sind und am Ende des Ganges schon eine nächste Sperre zu sehen ist, ein weiteres hellgrau lackiertes Bollwerk aus Eisen und Stahl, dann fragt sich der Besucher vielleicht, wie viele Türen waren das bisher eigentlich? Erst drei? Oder doch schon fünf? Es scheint zunächst, als betäube der Ort, als funktioniere Denken und Wahrnehmung hier plötzlich anders als sonst gewohnt. Und irgendwann auf einem dieser mit Kunstlicht erhellten Flure entstehen nun doch so etwas wie, nun ja, Zweifel. Die Welt außerhalb dieser Mauern - es gibt sie wirklich? Und sie liegt tatsächlich erst diese paar Schritte zurück? Anders als die allermeisten Menschen hier drinnen wird man es in ein paar Stunden wohl wieder wissen, man ist ja nur zu Besuch.

Zurzeit 275 Männer leben an diesem Ort, 40 mehr als eigentlich vorgesehen, und nicht nur deshalb darf leben hier keineswegs mit wohnen verwechselt werden. Justizvollzugsanstalten, auch diese in Kiel, sind keine Orte wohliger Bequemlichkeit. Der wuchtige und sternförmig abstrahlende Bau, mit einer starr reglementierten Welt im Innern, erscheint wie eine Festung aus ferner Zeit. Wer dort „einfliegt“, wie der Strafantritt im Knastjargon genannt wird, hat zuvor gegen gesellschaftliche Normen und Regeln verstoßen. Im Kieler Knast müssen bis zu dreijährige Strafen verbüßt werden – wegen Diebstahl oder Betrug beispielsweise, Einbruch oder auch wiederholtem Fahren ohne Führerschein. Etwa ein Drittel der dortigen Knackis hat Kontakt mit Drogen, viele von ihnen mussten sich draußen mit Beschaffungskriminalität über Wasser halten.

„Irgendwann brauchte ich täglich bis zu 300 Euro“, erzählt Rolf, ein 42-Jähriger, „Heroin, Koks, die ganze Palette.“ Rolf hört eigentlich, wie alle Gefangenen in dieser Geschichte, auf einen anderen Namen, und seit 15 Jahren pendelt er nun schon zwischen drinnen und draußen, zwei Jahre hier, zwei Jahre da, und so weiter. „Mit großen Taschen rein in die Läden und voll packen“, sagt Rolf, „ich wusste immer, dass ich wieder rein komme in den Knast.“

Jetzt sitzt er an einem kleinen Tisch, ein nett und freundlich plaudernder Mann, und wenn es Menschen gäbe, die dafür dankbar wären, im Knast zu hocken, dann gehörte Rolf wohl zu ihnen. „Diesmal noch, und danach nie wieder“, sagt er, seine vorzeitige Entlassung steht bald bevor. Dann erzählt er davon, dass er draußen das Leben in Abhängigkeit nicht mehr ertragen konnte und kurz davor war, sich den letzten, den „goldenen“ Schuss zu setzen. Im Knast hat er kalt entzogen, seit acht Monaten lebt er nun ohne Drogen. „Dieser Knast war meine letzte Chance“, sagt Rolf, „ich glaube, ich habe sie genutzt.“

Anderen ist dies bisher nicht gelungen, sie besaßen vielleicht auch überhaupt im Leben noch keine Möglichkeit, es einmal zu versuchen. So trachten sie nur zu überleben mit Gewohnheiten, die sich oft bloß schwerlich noch abschütteln lassen, auch nicht hinter Mauern. Das Leben drinnen spiegelt bloß draußen Gelerntes. Knast ist kein glatter, kein zarter Ort. „Ein Schwuler“, erzählt Bernd, ein junger Gefangener, „richtet hier die Augen auch besser nach hinten.“ Und Olli, ein Mitte 40-Jähriger, sagt, „man darf nicht labil sein, muss vor manchen Mitgefangenen immer auf der Hut bleiben. Da können die Beamten noch so aufmerksam sein – plötzlich steht jemand in deiner Hütte und fordert von dir Tabak.“ Und wenn du nichts hergibst, fügt Olli hinzu, dann setzt es was, „ratschbatsch in den Bauch, das sieht hinterher keiner.“

Erpresserischer Druck hier, Handel und Geschäfte dort - Knast ist in Teilen immer auch ein Mikrokosmos der Warenwelt: Geldgeschäfte, Drogengeschäfte, Kaffee- oder Tabakgeschäfte, manchmal wohl auch Sexgeschäfte. „Aber wie die Drogen hier rein kommen, trotz aller Kontrollen“, sagt Martin Hagenmaier, der seit über zehn Jahren als evangelischer Seelsorger im Kieler Knast Gefangene betreut, „das ist und bleibt die große Frage.“ Wer über ein wenig Geld verfügt, schafft sich leichter ein paar Vorteile, wer nicht zahlen kann, so Pastor Hagenmaier, „dem entstehen manchmal böse Probleme.“

Ein wenig Geld – höchstens und sehr selten180 Euro Taschengeld im Monat plus weiteren rund 300 Euro für den Tag der Entlassung - kann verdienen, wer Arbeit findet in einer der Werkstätten. Doch auch im Knast mangelt es daran, bis zu 40 Prozent der Kieler Gefangenen bleibt ohne sie und mit kargen 28 Euro Taschengeld. „Arbeit ist hier ein ganz zentrales Thema“, erzählen die Gefangenen, auch weil sie dabei hilft, etwas Ablenkung in den Alltag zu kriegen. Wer keine Arbeit bekommt, darf zuverlässig nur gut vier Stunden am Tag die winzigen Zellen verlassen, in denen das Klo nur durch einen Vorhang oder mit Holzplatten abgetrennt ist; den Rest des Tages verbringt man dann meist zu zweit in ihnen, seltener allein. „Für die Gefangenen“, sagt Pastor Hagenmaier, „hat nicht nur das Thema Arbeit viel mit ihrer Würde zu tun. Oft haben sie schon früh im Leben massive Zurückweisung erfahren. All das, was sie nun auch hier nicht bekommen, interpretieren sie genauso als gegen sie gerichtet.“ – „Gerechtigkeit und Gleichheit sind die Klassiker im Knast“, sagt der Gefangene Bernd, „man ist stets am Überlegen: warum darf der das bloß, ich aber nicht?“

Gestrauchelte und gescheiterte Menschen, einige noch hinter Gittern ruhelos brennend und andere längst schon trostlos verloren. „Ihre Schwierigkeiten haben nicht erst mit dem Knast begonnen“, sagt der Pastor. Viele haben nie ein intaktes Familienleben gelebt, kennen weder Vertrauen noch Freundschaft. „Ich bin wohl ein kleiner Tagträumer“, erzählt Hubert, ein 40-jähriger Gefangener, „drei Kinder aus zwei kaputten Ehen, ich hab von allem nichts gehabt.“ Beziehungen waren immer bloß schwierig, fügt Hubert noch hinzu, „aber vielleicht hat ja auch der Alkohol etwas damit zu tun“.

Dann zeigt er rasch auf die Narbe an seinem Handgelenk, das war noch vor dem Knast, sagt er, und vor Jahren waren da bereits ein paar weitere Versuche, Schluss zu machen mit dem Leben. „Wenn ich früher in ein Loch fiel, dann dachte ich: es ist besser, wenn ich nicht mehr da bin.“ Und heute? „Da versuche ich mich so gut es geht abzulenken, aber depressiv bin ich auch heute immer mal wieder.“

Es ist spät geworden an diesem Tag, die Uhr geht auf acht zu, überall Einschluss in die Zellen. Und der Besuch wird jetzt zurück begleitet über diese langen Flure und durch Stahltüren geschleust, deren Anzahl längst keine Bedeutung mehr besitzt. Dafür sind es einfach viel zu viele. Draußen ist es abendlich still. „Neulich durfte ich auf meinen ersten Freigang“, hat Hubert noch zum Abschied gesagt, „als ich dann wieder draußen stand, da war das ein ziemlich blödes Gefühl.“

Peter Brandhorst

HEMPELs Straßenmagazin Nr. 95; März 2004
die tageszeitung vom 10. 4. 2004
Sozialmagazin; Dezember 2004