Es sind diese gewohnten Momente, die Ahnung aufkommen lassen von der
Hilflosigkeit menschlichen Seins. Wenn Menschen ratlos nach Erinnerungen
suchen, nach Spuren und Fährten, die ihnen Halt und Orientierung
bieten könnten. Und sie dann doch keinerlei Hinweise entdecken, weil
ihnen kein Gedächtnis mehr helfen kann. Einfach keine Erinnerung
mehr an das eigene alltägliche Erleben.
"Oh Mann", seufzt Herr P., "jetzt fragen Sie mich aber
was ganz Schweres." Es ist früher Nachmittag, und Herr P. hat
nach dem Mittagessen aus seinem Leben erzählt. Die Fotografin hat
noch einige Aufnahmen mit ihm gemacht, "tun Sie ganz so, wie Sie
wollen", hat sie ihn ermuntert. Und Herr P. hat gescherzt und gesungen
und ganz freundlich in die Kamera geschaut. Immer wieder ist ihm dabei
der Hosenträger von der rechten Schulter gerutscht. Ganz rasch passiert
das; Arm und Schultergelenk fehlen, um Halt zu geben.
"Eine schwere Frage", wiederholt Herr P., und ein scheues Lächeln
drückt seine Verlegenheit aus. Da sitzt jetzt nicht mehr der lachende
Mann von noch vorhin, der versucht hat, lauthals aus seiner Vergangenheit
zu erzählen, von seinem Leben vor 30 oder 40 Jahren. "Mittagessen?",
antwortet Herr P. schließlich, "ich glaub', Pellkartoffeln
mit Spiegelei waren das heute. Oder mit Rührei?" Und dann: "Kohlroulade
gab's? Nee, das könnte ich so jetzt nicht sagen."
"Herr P.", ruft die Fotografin ihm dann noch ein letztes Mal
zu, "die Aufnahmen vorhin - hat das Spaß gemacht?" "Fotos?",
fragt Herr P. überrascht zurück, "von mir wurden Fotos
gemacht? Ja, doch, das kann möglich sein."
Ein paar Flure weiter liegt Herr E. in seinem Zimmer auf dem Bett. Herr
E. ist 71 Jahre alt und liegt dort jeden Tag so, immer auf dem Rücken
und dabei stets den Blick auf irgendeinen Punkt unter der Zimmerdecke
gerichtet. Morgens kleidet sich Herr E. an, bevor er erneut auf sein Bett
zurückkehrt. Herr E. trägt einen kleinen Kugelbauch unter dem
blauen Hemd, und auch noch, wenn er im Bett liegt, faltet er seine Hände
so, als müsse er den Bauch stützen. Herr E. ist ein leiser Mann,
anders als Herr P. es manchmal sein will, und er ist ein schweigsamer
Mensch. Kein Wort zuviel bei den Antworten auf die Fragen. "Weiß
ich nicht", sagt er dann meistens, und manchmal antwortet er nur
mit hilflosen, unwissenden Blicken irgendwo an die Decke.
Bloß von den Großeltern, "Oma Sofie und Opa Wilhelm",
die ihn als Kind erzogen und mit denen er auch als Erwachsener lange zusammenwohnte,
spricht er in etwas längeren Sätzen. Ob seine Großeltern
vielleicht noch leben? "Weiß ich nicht. Das kann ich gar nicht
sagen."
Später, als wir uns verabschieden, steht auch Herr E. von seinem
Bett auf. Selten, aber manchmal tut er das, wenn er beispielsweise Durst
verspürt und neues Mineralwasser wünscht. Jetzt also steht Herr
E. neben uns auf dem Flur, und der Betreuer fragt ihn: "Na, Herr
E., Sie hatten Besuch heute?" Und Herr E. antwortet: "Besuch?
Nein, nein. Gar nicht."
Das Leben, und in ihm Menschen wie Herr E. und Herr P., ist wie in dichten
Nebel gehüllt, der jeglichen Blick verstellt auf die kleinen Erlebnisse
des Alltags. Ein fester, undurchdringbarer Nebel, in dem sich sogleich
jede Erinnerung an das Jetzt und das Soeben für immer ungreifbar
verliert. Eben noch Erlebtes, das spurlos und sekundenschnell wieder aus
dem Hirn wegradiert wurde. Herr P. und Herr E. leben als Menschen ohne
Gedächtnis. Wer am Korsakow-Syndrom erkrankt ist, der allerschwersten
aller Alkoholkrankheiten, erlebt jede Situation ständig neu.
"Ich hab nicht hinterm Berg gehalten", sagt Herr P., wenn er
von früher erzählt und vom Alkohol, "man hat da irgendwann
keine Maße mehr für." Herr P. ist 67 Jahre alt, ein Hamburger
Jung, gelernter Schlosser und Alkoholiker seit 50 Jahren. "Man trinkt
Bier und Bier und Bier", versucht er seine über all die lange
Zeit geübten Gewohnheiten zu beschreiben, "das war eigentlich
an und für sich immer das Übliche."
"Zuhause", sagt Herr P., "hab ich natürlich das große
Maul gehabt." Und dann erzählt er davon, wie er mit seiner Frau
"in Knatsch gekommen" ist wegen "so'm Verhältnis,
das sie nebenbei hatte, und all so'm Kram". Ich bin deshalb da raus
aus der Wohnung, glaubt Herr P., doch seine Erinnerung verliert sich bereits
viel früher, ungefähr seit Anfang der achtziger Jahre. Wohin
er nach dem Knatsch ging? "Nee, das weiß ich nicht mehr."
Wie seine Frau denn wohl hieß? "Oh ha, das fällt mir ehrlich
nicht mehr ein." Ende 1988 wurde Herr P. allein und hilflos und offensichtlich
bereits seit Tagen ohne Bewusstsein in seiner Wohnung aufgefunden.
Wer ihn fand? Niemand weiß das heute mehr. Welche Geschehen dem
in den Monaten oder Jahren zuvor vorausgingen? Keine Hinweise in den Akten
auffindbar, alle Spuren auf ewig gelöscht. "Alkoholiker, die
an Korsakow erkranken", sagt Roman Weiß, bei der staatlichen
Hamburger Einrichtung "pflegen & wohnen" Leiter eines Pflegeheims
für Trinker, "sind nicht mehr in der Lage, sich sozial adäquat
zu verhalten". Die Folge: Bekannte und auch Angehörige ziehen
sich oftmals vollkommen zurück. Herrn P.'s Frau, zusammen mit den
gemeinsamen Kindern, muss die Wohnung schon lange vor seinem Auffinden
für immer verlassen haben. Zu kraftlos war sie oder vielleicht auch
nur desinteressiert, wer weiß das schon noch, um das weitere Schicksal
ihres Mannes zu verfolgen. Herr P. kam nach einem kurzen Aufenthalt in
der Psychiatrie Anfang 1989 in eine betreute Pflegeeinrichtung, wo er
seither lebt. "Das sind jetzt ungefähr zwei Monate, die ich
im Heim bin", sagt er.
Es scheint, als habe jemand einfach die Löschtaste des Hirns, dieses
menschlichen Computers, gedrückt. Daten, Namen, Fakten - all diese
Informationen und Erinnerungen des Lebens, sie verschwinden nahezu spurlos
in einem Loch des Vergessens. Wer sich an Erlebtes nicht mehr erinnert,
der wird mit seinen Erzählungen verbal zum Spieler. Wie bei einem
Brettspieler, der die Würfel wirft für ein doch nur zufälliges
Ergebnis, gleichen Erzählungen korsakowkranker Menschen einem mentalen
Würfelspiel.
Das war erst vor kurzem, vor ein paar Monaten, würfelt nun Herr P.,
wenn er von seinem rechten Arm spricht und davon, wie er den verlor. Und
dann erzählt er von einer großen Straße, wie es sie dicht
bei seinem Pflegeheim gibt, und von einer anderen in der Nähe des
Hauptbahnhofs. Dort befand sich einst ein Sozialamt, und es scheint, als
habe Herr P. Ansätze einer Erinnerung, wonach sein Leben ihn in früheren
Jahren des öfteren auch dorthin führte. "Wo der Unfall
aber genau war, da bin ich jetzt im Zweifel", sagt Herr P. und setzt
an zu einem neuen verbalen Wurf. Ich bin über die Straße gelaufen,
erzählt er, von links ein Bus, von rechts ein anderer, und dann bin
ich gestolpert. "Mit die Vorderräder einfach rüber gefahren",
erklärt Herr P., "und dann sachte das: zack. Und weg war er."
Wie er mit der anderen Hand immer wieder den Hosenträger zurück
auf die rechte Schulter streife, beschreiben später die Betreuer,
das lasse schon eine lange Jahre trainierte Routine erkennen. 1981 war
Herr P., einer der wenigen bekannten Punkten in seiner Biografie, mit
dem Arm unter ein sich schließendes Tor geraten, ein Arbeitsunfall.
Herr P. würfelt jetzt noch ein wenig mit Zahlen. "Wieviel Bier
trinke ich eigentlich?", fragt er den Betreuer, "abends zwei
und dann noch mittags und morgens?" Sucht, auch seine, lässt
sich nicht verbieten. Kontrolliert konsumieren zu dürfen, bedeutet
für ihn drei Mal am Tag je eine Dose.
Und sonst? Diese Leere im Kopf, ist da Raum für Wünsche an die
Zukunft? "Ich fühl' mich ganz wohl", sagt Herr P., "manchmal
sabbel' ich ein bisschen viel durcheinander. Ich will das gar nicht, aber
das kommt dann einfach so aus einem raus."
taz Hamburg vom 24.12.2002, S. 27, 218 Z. (TAZ-Bericht), Peter Brandhorst
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