Die Reform des öffentlichen Diensts am Beispiel der Hamburger Müllwerker

Eben ist der 12-Tonner auf den Steindamm gebogen, mitten im Rotlichtviertel hinter dem Hamburger Hauptbahnhof, wo sich wie auf eine Perlenkette gezogen Sexshops abwechseln mit zumeist türkischen Gemüseläden und Dönerbuden. Heiko Schultz, 39-jähriger Vorarbeiter der vierköpfigen Kolonne, läuft auf dem Bürgersteig vorweg, und einen Moment lang vergisst er nun seine bisher dem Reporter gegenüber gezeigte Zurückhaltung. „Lauter Biokram drin“, flucht er laut und zeigt auf die Mülltonnen, „jede bis zum Kragen gestopft mit irgend so’m Scheiß.“ Ob Bio oder nicht – Schultz muss jetzt mit den Händen oben an den Behälter greifen und unten den Fuß dagegen stemmen. Bis zu 100 Kilogramm Gewicht wollen so auf zwei kleine Rädchen verlagert werden, möglichst bei gestrecktem Rücken, um die Tonne dann über die Bordsteinkante hinweg zum Müllwagen rollen zu können. „Sich mal eine Tonne zusätzlich zu kaufen“, klagt Schultz, „dafür fehlt dann das Geld.“

Einen Tag unterwegs mit einer Kolonne der Hamburger Müllabfuhr. Ein normaler Tag bei einer normalen Tour, hatten die Müllwerker vorher gesagt. Mischtouren nennen sie solche Innenstadtfahrten, in engen Einbahnstraßen müssen wartende Autofahrer halbwegs bei Laune gehalten und ein paar Ecken weiter der mehrspurig vorbeirauschende Straßenlärm ertragen werden. Dazu pausenlos große wie kleine Behälter aus Kellergewölben ziehen oder von Hinterhöfen rollen, jeden auch wieder retour, bis zu tausend pro Tag. „Von allem viel“, sagt Norbert Stoldt, 45-jähriger Entsorger, „nicht nur halbleere 30-Liter-Eimer älterer Leute draußen vor den Einzelhäusern oder volle Eins-Einser in den Hochhaussiedlungen.“

Eins-Einser. Man war ja eigentlich gekommen, um sich mit den Männern der Müllabfuhr über die BAT-Reformen zu unterhalten, über drohende Mehrarbeit etwa oder künftig möglicherweise wegbrechende Weihnachts- wie Urlaubsgelder. Und nun bekommt man zunächst mal Fachmüllchinesisch um die Ohren geschlagen, Ausdrücke wie Eins-Einser oder Hamburger Griff, IFAT und BDO.

Vorarbeiter Schultz schiebt einen 1,1 Kubikmeter Abfall fassenden Container von einem Hinterhof. Eigentlich dürften solche Großcontainer, diese manchmal bis zu 500 Kilogramm Gewicht tragenden Eins-Einser, nur zu zweit angefasst werden. Der Bordstein müsste zudem zur Straße hin mit einer Laderampe abgesenkt werden. So sieht es ein IFAT-Gutachten, mit dem vor etwa 20 Jahren die Arbeitsbelastungen der Müllwerker untersucht wurden. Festgestellt wurde, dass sie bereits nach eineinhalb Stunden Arbeit einer körperlichen Belastung ausgesetzt sind, wie sie vergleichbar auch ein Marathonläufer nach 30 Kilometern durchlebt. Auf jede Stunde Arbeit sollten deshalb zehn Minuten Pause folgen. Aber auch am heutigen Tag wird schon seit halb sieben in der Früh und noch bis zur Mittagspause durchgearbeitet, auch heute bleibt keine Zeit für den helfenden zweiten Mann, um Hausmülltonnen gemeinsam Kellertreppen hinauf zu wuchten - einer oben am Kopf der Tonne, der andere unten am Fuß, ihr Hamburger Griff.

Umfang und Länge der Touren bemessen sich nach Zeitvorgaben einer BDO-Studie. Berücksichtigt werde dabei jedoch lediglich der so genannte Kippservice, sagt Rainer Hahn, freigestelltes ver.di-Personalratsmitglied bei der Hamburger Stadtreinigung und zugleich Mitglied der Bundestarifkommission, der oftmals nötige Transportservice hingegen nicht. „In neun Stunden Arbeit kriegen wir die Touren gerade so gefahren“, ruft Viez Schultz, wie Vorarbeiter bei der Hamburger Stadtreinigung gerufen werden, „jede Pause, jede gegenseitig helfende Hand würde den Tag nur noch länger machen. Bestimmt um eine Stunde, aber dann eine Stunde ohne mehr Geld.“

Nun also auch noch die BAT-Reformen. „Und dann kommst du“, sagt der 39-jährige Viez über den nächsten Eins-Einser hinweg, „und fragst uns, was wir davon halten?“

Gewerkschaften wie Länderarbeitgeber im öffentlichen Dienst, die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL), hatten sich Anfang 2003 auf den Weg gemacht zu einem neuen Tarifrecht für die Arbeiter und Angestellten im Tarifgebiet West. Gemeinsam wurde eine so genannte Prozessvereinbarung beschlossen, in deren Verlauf bis Ende 2004 – also noch rechtzeitig vor der nächsten regulären Lohnrunde Anfang 2005 - durchschaubarere und modernere Regeln erstellt werden sollten. Straffung zu einem überschaubaren und für Ost und West gemeinsamen Tarifwerk stand auf der Tagesordnung, ebenso die Ablösung vom Beamtenrecht und das Herantasten an das Leistungsprinzip. Zum wesentlichen Kriterium erklärten die Länder damals, nichts dürfe teurer werden.

Inzwischen droht dieser Reformprozess unmittelbar zu scheitern . Nachdem von der TdL bereits Mitte vergangenen Jahres die Tarifverträge über das Urlaubs- sowie Weihnachtsgeld gekündigt wurden, haben die Ministerpräsidenten dies inzwischen ebenso einseitig auch mit dem Arbeitszeit-Tarifvertrag – 38,5 Stundenwoche - getan. Beide Kündigungen betreffen zunächst nur neu einzustellende Kolleginnen und Kollegen sowie Arbeiter und Angestellte, die – beispielsweise nach Beförderungen – veränderte Verträge abschließen. Für sie gibt es keine Sonderzahlungen mehr, seit dem vergangenen 1. Mai steigt ihre Wochenarbeitszeit auf 40 (Hamburg, Niedersachsen) bis 41 (Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg) oder gar 42 Stunden (Bayern, Hessen). Weitere Länder hatten sich bis Redaktionsschluss noch nicht entschieden.

Die TdL will diese einseitigen Veränderungen („Anpassung an herrschendes Beamtenrecht“) im Rahmen der Prozessvereinbarung nun für alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst festschreiben. Begründung: Anders als noch zu Beginn der Gespräche vorhersehbar könne künftig nicht mehr nur kostenneutral abgeschlossen werden, angesichts der Finanzkrise müssten die Länder deutlich einsparen. Zugleich wird nun auch verlangt, den besonderen Kündigungsschutz für über 40-Jährige und/oder länger als 15 Jahre Beschäftigte aufzuheben sowie eine künftige Leistungsbezahlung „aus dem bisherigen Volumen vorzunehmen.“ Urlaubs- und Weihnachtsgeld wie familienstandsbezogene Ortzuschläge sollen demnach zunächst einbehalten werden, um später davon Jahresprämien zahlen zu können. Für die Gewerkschaften lauter k.o.-Punkte. Heiko Gosch, beim GEW-Hauptvorstand für Tarifangelegenheiten zuständiges Vorstandsmitglied, spricht von dem Versuch eines Lohnraubs. Noch in diesem Sommer könnte es zu ersten Arbeitskämpfen kommen.

Heiko Schultz arbeitet seit 18 Jahren bei der Müllabfuhr, ähnlich lange wie die anderen Kollegen aus der Kolonne, Uwe Koslowski beispielsweise, 39-jähriger Entsorger mit jugendlich-flotter Spoilerfrisur, oder Holger Lehmitz, 41, stets stoisch gelassener Kraftfahrer. Fast ihr ganzes Arbeitsleben haben sie miteinander verbracht, da kennt man die Sorgen und Befindlichkeiten des anderen, weiß auch Bescheid über die Stimmung insgesamt bei den 2.570 Beschäftigten der Hamburger Stadtreinigung, von denen 1.600 tätig sind in Entsorgung und Straßenreinigung. Nahezu jeder ist hier gewerkschaftlich organisiert. „Ob wir zum Streik bereit sind?“, fragt Schultz überrascht zurück. Fast scheint ihm nun der Westpoint-Cigarillo aus dem Mundwinkel zu rutschen, ebenso gut hätte man ihn wohl auch fragen können, ob denn der HSV in diesem Jahrtausend vielleicht doch noch mal Deutscher Fußballmeister werde oder zu was bloß dieser 12-Tonner tauge, an dessen Seite er jeden Tag durch die Straßen läuft. „Die Leute merken, wenn ihnen in die Tasche gegriffen werden soll“, antwortet der Vorarbeiter schließlich wieder einigermaßen gefasst, „die Bereitschaft, zu kämpfen, ist ganz schön groß.“

Es ist eine simple Handbewegung, mit der die Arbeiter ihre Betroffenheit zum Ausdruck bringen – das Reiben des Daumens mit dem Zeigefinger. Wer heute als Müllentsorger anfängt, also nicht unter die jeweiligen Besitzstandswahrungen der Vergangenheit fällt, erhält – ledig, keine Kinder – monatlich 1.475 Euro brutto. Das sind etwa 800 Euro weniger als ein Neuanfänger noch bis1996, so Personalrat Rainer Hahn, der dies „eine erstaunliche Entwicklung“ nennt. Keine 400 Euro Prämienzahlungen mehr wie früher, ein paar Jahre später zudem eine Lohngruppeneinstufung tiefer. Und jetzt noch die Kappung der Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld. „Das ist schon richtiges Geld“, sagt Kraftfahrer Lehmitz. Sein Kollege Schultz rechnet vor, als langjährig Beschäftigter halte er zurzeit, inklusive Kindergeld, noch knapp 2.000 Euro netto zwischen den Fingern, „für mich, meine Frau und drei Kinder.“ Abzüglich Sonderzahlungen und Sozialzuschläge, so fürchtet er, wären das auch für ihn rund 400 weniger, „Miete und Einkaufen werden aber nicht billiger, wir hängen jetzt schon alle am Limit.“

Käme es auch zu einer Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit, dann könnten allein bei den Hamburger Entsorgern bis zu weitere 200 Stellen eingespart werden, fürchtet der Personalrat, bereits im Vorjahr waren 100 abgebaut worden nach einem Umbau der Schichtstrukturen. In Baden-Württemberg beziffert die Landesregierung die insgesamt angestrebten Einsparungen mittels dortiger 41-Stunden-Woche auf 1.250 Stellen und 37 Millionen Euro in den nächsten fünf Jahren. Ver.di hat einen drohenden Abbau von bis zu 100.000 Stellen im Westen errechnet.

Für viele Arbeiter ist es die Angst, in Armutsverhältnisse abzurutschen. „Wir haben in den letzten zehn Jahren nur gegeben, nichts bekommen“, klagen die Männer der Hamburger Innenstadtkolonne, „woanders werden Millionenabfindungen gezahlt, aber wir sollen die Nase hochziehen und für immer weniger Geld in die Keller springen.“ Für manchen geht es in diesen Monaten so um die eigene materielle Zukunft, auch um die körperliche ging es bei der Müllabfuhr schon immer. Spätestens nach zwanzig Jahren im Job „quietsche“ der Körper, kaum jemand stehe die Arbeit bis zur Rente durch. „Ab 50 müssen wir die Kollegen mit durchschleppen“, sagen die Jüngeren, ein jeder hofft, mit fortschreitendem Alter von der Entsorgung der schweren Tonnen in die Straßenreinigung wechseln zu können. Heiko Schultz, der knapp 40-Jährige, zeigt auf drei große Operationsnarben am Arm, „musste ich erst vor acht Wochen aufschneiden lassen“, sagt er, „ging nicht mehr anders nach einem Jahr Schmerzen – überlastete Nerven, verengte Muskeln.“ Und auch die anderen erzählen jetzt von ihren Rückenschmerzen und Tennisarmen.

Peter Brandhorst

Erziehung & Wissenschaft, Zeitschrift der GEW, Juni 2004