Heute war ein eigentlich normaler Arbeitstag, sagt
Astrid Schukat. Es ist später Mittag, sieben Menschen hat sie in
den vergangenen Stunden zur Seite gestanden, hat mit letzten organisatorischen
Dingen zu helfen versucht und erneut Tränen ertragen müssen.
Ein ziemlich normaler Tag, an dem die 46-Jährige auch wieder ihre
eigene „Ohnmacht neu aushalten“ musste.
Am frühen Morgen die fünfköpfige Familie mit den drei Kindern,
die nach kurzer Zeit in Deutschland zurück nach Serbien abgeschoben
werden soll und der keine Energie mehr geblieben war, sich über die
Ankunft auf dem Zielflughafen Gedanken zu machen. Schukat hat dann telefoniert
und Verwandte informiert. Oder der ursprünglich aus Somalia stammende
junge Mann, mit dem sie lange Gespräche führte, bevor er gemäß
Dublin-II-Verordnung zurück nach Italien verfrachtet wurde. „Mit
nassen Augen saß er vor mir“, sagt Schukat; manchmal fließen
die Tränen erst, wenn man getröstet wird.
Astrid Schukat, 46 Jahre alte Diplom-Sozialpädagogin und Mitarbeiterin
der Diakonie Hamburg, ist Abschiebebeobachterin. Wenn am Flughafen der
Hansestadt vom Staat für unerwünscht erklärte Flüchtlinge
abgeschoben werden, achtet sie darauf, dass die Würde dieser Menschen
nicht auf der Strecke bleibt. In den höchstens zwei Stunden, die
sie zwischen Sicherheitskontrolle und Besteigen des Flugzeuges hat, will
sie inmitten des Stresses auch für ein kleines bisschen Menschlichkeit
sorgen.
Seit Mai 2009 existiert am Hamburger Flughafen eine von der Diakonie finanzierte
Abschiebebobachtung, eine humanitäre Aufgabe, die seither von Schukat
wahrgenommen wird. Erstmals in Deutschland eingerichtet wurde ein solcher
Dienst 2001 am Düsseldorfer Flughafen. 2006 folgte Frankfurt am Main,
im Oktober vergangenen Jahres Berlin.
Schukat sieht sich in ihrem Job als „Menschenrechtszeugin. Ich achte
darauf, dass bei einer Abschiebung aus menschenrechtlicher Sicht Standards
eingehalten werden und die Flüchtlinge ihre Rechte wahrnehmen können.“
Sie darf alle Räume betreten und erhält alle erforderlichen
Informationen, um die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten
Mittel beurteilen zu können. Flüchtlinge, die Hunger oder Durst
haben, bekommen von ihr etwas zu essen oder zu trinken. Lediglich 800
Euro Handgeld stehen ihr dafür im Jahr zur Verfügung, je zur
Hälfte finanziert von Evangelischer und Katholischer Kirche. „Verhindern
kann ich eine Abschiebung nicht“, sagt Schukat, „ich kann
aber bei den Menschen sein, damit sie sich in diesem schwierigen Moment
nicht allein fühlen.“
Jeweils am Mittag des Vortages erfährt Schukat Namen und Alter der
Flüchtlinge und mit welcher Maschine sie zu welcher Uhrzeit wohin
abgeschoben werden sollen. Meist starten die gleich nach Ende des Nachtflugverbotes
früh um Sechs, „offiziell geben Überstellungszeiten und
Flugrouten diese Termine vor“, sagt Schukat. Und inoffiziell? Hamburgs
Abschiebebeobachterin zuckt mit den Schultern: „Vielleicht sind
spätere Geschäftsreisende ja ganz froh, nicht neben einem abgeschobenen
Flüchtling sitzen zu müssen.“
Reguläre Passagiere bekommen auch vorher nichts mit von den Abschiebungen.
Schukats Arbeitsplatz befindet sich im Haus der Bundespolizei neben dem
Terminal 1. Dorthin werden die Flüchtlinge von Bundes- und Landespolizei
oder Ausländerbehörde gebracht, nachdem sie zuvor nicht selten
mitten in der Nacht aus ihren Betten geholt worden waren. Die Zusammenarbeit
mit der Bundespolizei bezeichnet Schukat als „gut, sie leistet Amtshilfe
für die Ausländerbehörde und bekommt durch meine Arbeit
manchmal auch einen anderen Blick auf die Aufgabe.“ Zornig wird
sie, wenn Mitarbeiter von Ausländerbehörden besonders hart mit
Flüchtlingen umgehen, „dann bekommen die Probleme mit mir;
Flüchtlinge im Schlafanzug oder unangemessener Kleidung zum Flughafen
zu bringen, geht gar nicht“.
Es ist eine physisch und psychisch stark belastende Aufgabe, der Astrid
Schukat jeden Tag nachgeht. Um vier Uhr in der Früh beginnt ihr Job,
rechtzeitig vor den ersten Starts. „Die Emotionalität ist bei
den Abzuschiebenden groß“, sagt Schukat, viele weinen, kleine
Kinder wollen getröstet werden, alle sind erschöpft und müssen
endgültig Hoffnungen begraben. „Das sind ganz normale Menschen“,
so Schukat, „keine Verbrecher. Sie waren geflohen mit dem Wunsch
nach einer lebenswerten Zukunft, die sie in ihrer Heimat nicht mehr sahen.“
Vielen jungen Männern sei sie in den vergangenen Jahren begegnet,
„plietschen Köpfen“, die arbeiten wollten und nach kurzer
Zeit bereits gut die deutsche Sprache beherrschten. „Diese Menschen
brauchen wir in Deutschland eigentlich“ sagt Schukat, „wenn
sie abgeschoben werden, dann jammert es einem im Kopf.“
Warum macht sie diesen kräftezehrenden Job, wie hält sie den
auch eigenen Stress aus? Einen Moment lang schaut Astrid Schukat ganz
überrascht auf, so als verstehe sie den Sinn der Frage nicht. „Weil
es sinnvoll ist, Menschen in schwierigen Momenten zur Seite zu stehen“,
antwortet sie schließlich, „und wenn nicht die Kirche das
tun würde – wer dann?“ Schukat, die frühere Leiterin
der Hamburger Seemannsmission und langjährige ehrenamtliche Mitarbeiterin
kirchlicher Flüchtlingsarbeit, findet Halt in ihrem Glauben. Kirche
dürfe Menschen nicht allein lassen, sagt sie und verweist auf Simon
von Kyrene, der Jesus das Kreuz abgenommen und mit ihm zusammen Wut und
Trauer ausgehalten habe.
Der Glaube an Gerechtigkeit ist ihr ein wichtiger Motor. Als Dank bleiben
Schukat oftmals kaum mehr als ein paar Worte. „You look like an
angel“, hat ihr neulich jemand beim Abschied zugerufen. Als Erfolg
ihrer Arbeit verbucht sie, dass so wie in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz
und dem Saarland seit Sommer vergangenen Jahres auch in Hamburg kein Flüchtling
mehr mittellos abgeschoben wird. Jede Person hat ein Anrecht auf 50 Euro
Handgeld, „einmal war hier jemand, der bloß zwei Cent besaß.
Wie soll der am Zielort in einen Bus steigen können?“ Als weiteren
Erfolg ihrer Arbeit, über die sie regelmäßig im „Forum
Abschiebebeobachtung“ berichtet, sieht sie auch, dass seit knapp
zwei Jahren Bescheide, wohin jemand abgeschoben wird, Betroffenen sieben
Werktage vor Abflug zugestellt werden müssen. Früher wurden
die häufig erst am Flughafen übergeben ohne Chance auf Einschaltung
eines Rechtsbeistand.
Am nächsten Morgen wird Astrid Schukat wieder früh um Vier am
Flughafen sein und erneut Menschen begegnen, die ihre Träume begraben
mussten. Wird Frauen, Männer und Kinder sprechen, die bald darauf
in einem der ersten Flugzeuge diskret weggeschafft werden und denen sie
auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft noch einmal zur Seite zu stehen
versucht. „Die Ohnmacht ist groß, ihnen nicht anders helfen
zu können“, sagt Schukat, „aber wenigstens ist es eine
schöne Vorstellung, dass sie vor dem Verlassen von Deutschland noch
ein freundliches Gesicht gesehen haben.“
Info: So viele Abschiebungen wie seit Jahren nicht
Im vergangenen Jahr 2013 wurden in Deutschland so viele Abschiebungen
vorgenommen wie seit Jahren nicht. Wie die Bundesregierung auf eine Anfrage
der Partei Die Linke mitteilte, handelte es sich um fast 10.200 Personen
(2006: 14.000). Die meisten Betroffenen stammten aus den Balkanstaaten.
Abgeschoben werden Menschen ohne gültigen Aufenthaltstitel, die nicht
freiwillig ausreisen: Abgelehnte Asylbewerber sowie Migranten mit abgelaufenem
Visum oder abgelaufener Aufenthaltserlaubnis.
Von den 10.200 Abschiebungen fanden knapp 7300 auf dem Luftweg statt,
die meisten in Frankfurt/Main (2500), Düsseldorf (1158) und Berlin
(gut 827). Über den Flughafen Hamburg liefen 325 Abschiebungen. Betroffen
waren hier Personen, die sich zuvor in Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen
oder Mecklenburg-Vorpommern aufhielten.
Erschienen in: HEMPELS Straßenmagazin im Juni 2014
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