Es ist später Mittag, als Jürgen Kuckuk auf
dem kleinen Sofa in der Wohnküche zu rutschen beginnt. Ein paar Handbreit
neben seiner Frau saß er die ganze Zeit, jetzt schiebt er sich mit
seinem schmalen Körper vorsichtig heran und legt den Kopf fest gegen
ihre Schulter. Verletzlich und schutzbedürftig wirkt der 57-Jährige
plötzlich, wie ein kleiner Junge, und seine drei Jahre jüngere
Ehefrau Martina drückt ihn gleich in die Arme, ihre Augen leuchten
dabei.
„Ich brauche das“, sagt Jürgen Kuckuk nach einer Weile
und versucht zu erklären, was eigentlich keiner Erklärung bedarf,
„diese Nähe und das Wissen um eine andere Person – da
habe ich Nachholbedarf.“ Und seine Frau fügt hinzu, ihn weiterhin
fest im Arm haltend: „Draußen musste er immer überlegen:
Wem kann ich vertrauen? Draußen musste er immer auf sich selbst
aufpassen, da hat ihn niemand gestreichelt. Wenn man ein solches Leben
hinter sich lässt muss man erstmal lernen, Nähe wieder zuzulassen.“
Draußen – es ist oft zu hören, dieses Wort, wenn man
sich mit dem Ehepaar Kuckuk unterhält. Vor anderthalb Jahren haben
beide sich kennengelernt, inzwischen sind sie verheiratet und bewohnen
in Husum eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung. Sie leben jetzt in einer Welt,
die Jürgen Kuckuk über die Jahre fremd geworden war und an die
er sich erst langsam wieder herantastet. „Wann habe ich mich vorher
eigentlich das letzte Mal in so einer Wohnung aufgehalten?“, fragt
er irgendwann und blickt vom Sofa hinüber zu Fernseher, Herd und
Schränken, „eigentlich nie!“
Gut zwanzig Jahre spielte sich sein Dasein draußen auf den Straßen
ab. Kuckuk lebte ohne festen Wohnsitz, schlief mal hier und dann dort,
immer da wohin es ihn gerade gezogen hatte. Jetzt muss er nicht nur das
Wohnen an einem festen Ort wieder neu erlernen.
So unauffällig wie viele andere Paare auch wirken die Eheleute im
ersten Moment. Und wenn man mit ihnen über das Leben spricht, dann
antworten beide in wohlformulierten Sätzen. „Einander zuhören
und Dinge ausdiskutieren, eine andere Person immer respektieren“,
beschreibt Jürgen Kuckuk irgendwann seine Leitplanken eines sozialen
Miteinanders. „Als ich ihn vor anderthalb Jahren das erste Mal traf“,
sagt seine Frau Martina, „hatte ich plötzlich einen ernsthaften
Gesprächspartner“.
Der aus der Nähe von Hannover stammende Kuckuk wuchs in einer streng
konservativen Familie auf, sein Vater und später auch der Bruder
machen Karriere als Berufssoldat. Er selbst verweigert nach dem Abitur
den Wehrdienst und studiert in Freiburg zunächst einige Semester
Literaturwissenschaft. Bald heiratet er, wird Vater einer Tochter und
macht eine Umschulung zum Speditionskaufmann. Sein Leben und das der Familie
bestreitet Kuckuk jedoch nicht mit Büroarbeit, sondern als freiberuflicher
Redenschreiber oder Gestalter von Hochzeitszeitungen. Das Schreiben war
schon früh zu seinem wichtigsten Werkzeug geworden, das er bis heute
seiner manchmal weiterhin stotternden Aussprache entgegensetzt.
Als die Ehe 1991 in die Brüche geht, beendet Kuckuk für die
kommenden zwanzig Jahre auch sein bürgerliches Leben. „Ich
konnte nicht mehr“, sagt er heute, „da war zu viel Müssen.“
Er will die von ihm als belastend wahrgenommenen festen Strukturen abschütteln,
lässt sich von dem Survivalexperten Rüdiger Nehberg in die Kunst
des autarken Überlebens einweisen und begibt sich auf Reisen. Mehrere
Male fährt er nach Südamerika, einmal auch als Passagier auf
einem Seelenverkäufer. „Ich wollte andere Kulturen kennen-
und verstehen lernen, nicht bloß irgendwo auf der Straße abhängen“,
sagt er dazu. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich immer als Tagelöhner.
Dass dieses Leben, in dem der Alkohol zu seinem ständigen Begleiter
wurde, die Gesundheit massiv beeinträchtigte, wurde ihm vor einigen
Jahren bewusst. „Eingestanden habe ich mir meine Abhängigkeit
2001“, sagt Kuckuk, zwischendurch war er zwei Jahre lang auch mal
weg vom Alkohol, „aber ganz ohne geht es heute nicht. Ich habe den
Level jetzt runtergedrückt und trinke dann nicht mehr, wenn ich Diskussionen
nicht mehr folgen kann.“ Dass er schon länger mit Herzrhythmusstörungen
zu kämpfen hat, versucht er zu akzeptieren.
Immer wieder hat er in den vergangenen Jahren auf seinen Reisen zwischen
Nord- und Südeuropa, bei seinen Erkundungen unterschiedlicher Kulturen
auch in Husum Station gemacht. „Die Leute sind hier sind sehr freundlich“,
sagt Jürgen Kuckuk, „nie wurde ich als Penner angesehen, man
hat mich immer als Menschen wahrgenommen und mir auch geholfen.“
Im Sommer 2012, als er sich erneut in Husum aufhält, nimmt er auf
einer Parkbank eine Frau wahr.
„Es war keine Liebe auf den ersten Blick“, sagt Jürgen
Kuckuk im Rückblick, „mich hat damals nur fasziniert, dass
Martina offenbar mit dem Aufschreiben eigener Gedanken beschäftigt
war, ich schreibe ja auch so gerne.“
„Wir hatten sofort ein tiefes Gespräch, weißt du noch,
Jürgen?“
„Ja, du machtest mich im ersten Moment fast sprachlos mit deinen
Sätzen.“
„Wir haben uns unterhalten, und es kam etwas zurück von ihm.
Das kannte ich nicht mehr.“
„Über gesellschaftliche Konventionen haben wir gesprochen“,
erinnert Jürgen.
„Über alles konnten wir reden. Da waren Resonanz und eine gleiche
Ebene mit dir, dem ich vorher nie begegnet war“, sagt Martina.
„Ich war damals ja noch ein Wohnungsloser.“
„Die Spannung wurde immer größer. Sonst hätte ich
erst gar nicht versucht, ihn bald wiederzusehen.“
„Martina und ich haben uns nicht gesucht, trotzdem haben wir uns
gefunden“, sagt Jürgen.
Kuckuks heutige Ehefrau Martina ist gelernte Kinderpflegerin. Später
arbeitete sie als Bürogehilfin und führte in den 90er Jahren
einen kleinen gastronomischen Betrieb in Husums Innenstadt. Als Hausfrau
kümmerte sich die dreifache Mutter dann um die Erziehung der Kinder,
2005 wurde ihre zweite Ehe geschieden. Inzwischen leben Martina wie auch
Jürgen Kuckuk von Hartz IV. „Der Alltag ist nicht einfach“,
sagt die Ehefrau, „aber ich habe noch nie so viel mit jemandem lachen
können wie jetzt mit ihm.“
Das alltägliche Leben mit einem Partner und in einer gemeinsamen
Wohnung wieder erlernen müssen – für Jürgen Kuckuk
bleibt das vorerst weiter eine große Herausforderung. „Draußen“,
benutzt seine Frau Martina jetzt wieder dieses eine Wort, „draußen
hat ihn die gehetzte Orientierungslosigkeit bestimmt, Misstrauen und Vorsicht
lassen sich nicht von heute auf morgen ablegen. Er hatte auch verlernt,
ruhig zu schlafen; anfangs schreckte er bei jedem Geräusch in der
Wohnung auf.“ – „Ich habe mich früher am liebsten
dort hingelegt, wo keine Menschen in der Nähe waren“, antwortet
ihr Mann. Im gemeinsamen Schlafzimmer hat er jetzt ein kleines Stofftier
liegen, ein Schaf: „Auch bei den Schafen auf dem Deich habe ich
mich nachts immer sehr sicher gefühlt.“
Manchmal stürzt ihm in der neuen Wohnung sprichwörtlich die
Decke auf den Kopf. „Dann muss ich nach draußen“, sagt
Jürgen, „ich kann dann Decke und Wände nicht mehr ertragen.“
Und wenn die Fenster im Wohnzimmer geschlossen sind, kommt es vor, dass
er sie aus Angst vor zu wenig Luft trotz Kälte oder Straßenlärm
aufreißt. Inzwischen, sagt die Ehefrau, wisse er mit einigen technischen
Haushaltsgeräten umzugehen: „Wie viele Apparate hast du anfangs
zerstört, weil du mit ihnen nicht klarkamst?“
Für Jürgen Kuckuk geht es darum, ein über viele Jahre gelebtes
Leben langsam auf vollkommen neue Füße zu stellen. Wie wird
ein Bankkonto eröffnet, wie ein fester Wohnsitz angemeldet? „Als
Partnerin muss ich ihm gegenüber große Toleranz aufbringen“,
sagt Ehefrau Martina. Und Jürgen, wie erlebt er diesen Prozess der
Veränderungen? „Früher konnte ich mir nicht vorstellen,
abends auf der Couch zu sitzen und Fernsehen zu schauen, jetzt ertappe
ich mich immer häufiger dabei, dass mir das gefällt.“
Und dann fügt er noch hinzu: „Ich trage jetzt nicht nur Verantwortung
für mich, sondern auch für meine Frau.“
Vielleicht werden beide auf ihrem gemeinsamen Weg noch Rückschläge
erleben, kleinere oder größere, beirren lassen wollen sie sich
davon dann nicht. Dass sie ihre Geschichte, die vor allem Jürgens
ist, öffentlich erzählen, geschieht in der Absicht, Verständnis
zu wecken und anderen seit vielen Jahren obdachlos lebenden Menschen Mut
zu machen. „Der Weg zurück ist nicht einfach, aber möglich“,
sagt Jürgen Kuckuk. Martina fügt hinzu: „Niemand muss
besorgt sein wegen eines Mieters wie Jürgen, hier im Haus klappt
es super nett mit den Nachbarn.“
Dann nimmt sie ihn wieder in den Arm, drückt sich noch ein Stück
näher an ihn heran und sagt, „ich nehme dich so wie du bist.“
Erschienen in:
HEMPELS Straßenmagazin im Januar 2014
Publik-Forum Extra Leben im Juni 2014
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