Interview mit Ex-Ministerpräsidentin Heidi Simonis über Menschen und Politik
Heide Simonis, wir wollen über Menschen und Politik sprechen. Zunächst: Wie geht es Ihnen, sieben Jahre nach dem Ausscheiden aus aktiver Politik?
Wieder richtig gut, außer dem einen oder anderen Zipperlein. Das ist aber eine Altersfrage und hängt nicht davon ab, ob ich noch Ministerpräsidentin bin.
Sie mussten 2005 unfreiwillig aussteigen aus der Politik. Wie lange hat es gedauert, bis Sie sagen konnten: Ich bin mit meinem neuen Leben im Reinen, es geht mir gut?
Anderthalb Jahre waren das schon. Ich habe ja insgesamt dreißig Jahre lang Politik gemacht – Bundestag, Finanzministerin, Ministerpräsidentin, Tarifverhandlungsführerin für den öffentlichen Dienst. Und wenn das  auf einmal weg ist, dann ist das so, als wenn man dem Alkoholiker die Flasche wegzieht (lacht). Oder jemandem das wegnimmt, was er zu essen oder trinken gewöhnt ist. Nach anderthalb Jahren hatte ich mich daran gewöhnt, dass mein Tagesablauf von mir bestimmt werden kann und nicht durch äußere Vorgaben.
Viele vormals hochrangige Politiker beschreiben die ersten Monate oder Jahre nach ihrem Ausstieg als eine Zeit, in der sie mit Sinnkrisen oder gar depressiven Anwandlungen zu kämpfen hatten, um von der Droge Politik lassen zu können.
Mich hat davor damals ein Projekt bewahrt, das ich mit meinen beiden Schwestern gemacht habe. Wir haben das Buch „Drei Rheintöchter“ über unsere Kindheit in Bonn geschrieben. Auch heute ist es nicht so, dass ich rumsitzen und gar nichts tun könnte. Ich denke darüber nach, einen Kriminalroman zu schreiben. Aber da ich nicht weiß, wie man jemand umbringt, ist das ganz schwierig (lacht). Ich brauche eine Leiche!
Möglicherweise gibt es in der Politik ja die eine oder andere.
Richtig (lacht).
Angenommen, Sie machten sich noch schlau in theoretischen Kenntnissen zu Mord und Totschlag: Ihr Kriminalroman würde in einem politischen Umfeld spielen?
Ich denke schon.

Wenn Sie heute auf der Straße unterwegs sind, wie oft werden Sie noch erkannt und angesprochen?
Relativ häufig, nicht nur in Schleswig-Holstein. Von den jungen Leuten erkennen mich heute noch viele, die vor ein paar Jahren „Let's dance“ im Fernsehen gesehen haben. In diesem Fall ist es halt nicht mein politisches Schicksal, sondern mein tänzerisches, das diese Leute weiterhin im Kopf haben (lacht).
Sie haben mal gesagt: „Ich bekomme rasch schlechte Laune, wenn ich in der Öffentlichkeit nicht gleich erkannt werde.“ Auch so gesehen hält sich Ihre Laune weiterhin ganz stabil?
Ja. Aber das Zitat stammt aus einem Zusammenhang, den ich vielleicht erklären darf: Wenn Sie wiedergewählt werden wollen, dann müssen die Leute Sie kennen. Und wenn nach all den vielen Jahren – ich war zwölf Jahre Ministerpräsidentin – Menschen an mir vorbeigegangen sind, die mich nicht wiedererkannt haben, dann hatte ich ein Gefühl tiefer Bekümmernis. Nämlich: Die wählen dich bestimmt nicht, die kennen dich ja nicht.
Verändert Politik den Menschen?
Ja. Was einen verändert, das ist dieser durchgetaktete Tagesablauf. Ihr ganzes Leben wird sortiert durch einen von außen vorgegebenen Terminkalender, Sie müssen auch Ihr Privatleben bis hin zu den eigenen Ferien danach ausrichten. Abends bekommt man einen Laufzettel für die Sitzungen des nächsten Tages mit, und dann muss der abgearbeitet werden. Das verändert einen, da muss man sich auch mal zusammenreißen.
Ole von Beust hat vor knapp zwei Jahren seinen Rücktritt als Erster Bürgermeister Hamburgs unter anderem damit begründet, er sei „durchgenudelt“ von den ewig gleichen Terminen mit den ewig gleichen Reden, beispielsweise auf Schützenfesten.
Durchgenudelt ist ein schöner Ausdruck (lacht). Ich kann das gut nachvollziehen. Aber wenn Sie zu Schützenfesten nicht hingehen, dann werden Sie rasch Pech haben. Das merken die Leute nämlich.
Wie schützt man sich gegen das Gefühl: Ich mag all diese repräsentativen Pflichten nicht mehr?
Ich habe die Begabung mitbekommen, dass ich sofort abschalten kann. Wenn ich nach Hause kam, fix und fertig vom Tag, konnte ich ins Bett gehen und wunderbar schlafen. Wenn Sie nächtelang Gedanken wälzen, dann stehen Sie am nächsten Tag vor dem Spiegel und sagen: Oh Gott, wie sehe ich denn aus! Aber dieser harte Rhythmus, der einem da vorgegeben wird, ist ein stärkerer Eingriff ins eigene private Leben als alles andere und hinterlässt auch Spuren.
Als Ministerpräsidentin durften Sie manche Privilegien genießen. Was fehlt Ihnen davon heute am meisten?
Der Fahrer, der sich um einen Parkplatz kümmert. Dass nicht ich selbst mich um die Parkplatzsuche kümmern musste, war eines meiner schönsten Privilegien. Wenn ich heute irgendwo einen kleinen Vortrag halte, muss ich oft erst dreimal, viermal im Kreis fahren.
Das Gefühl, Macht zu haben, fehlt Ihnen nicht?
Das fehlt mir nicht, nein. Macht ist ein Instrument, das Sie brauchen, um nach Wahlen das zuvor Versprochene durchzusetzen. Aber Macht gibt es nur auf Zeit, nicht für die Ewigkeit.
Auf welche Privilegien hätten Sie damals gerne auch verzichten können?
Auf große Dinner. Überhaupt auf diese Begegnungen, bei denen man zu viel gegessen und getrunken und sich noch die 27. Rede angehört hat. Ich wäre dann manchmal lieber am Schreibtisch gewesen und hätte Dinge runtergearbeitet.
Welchen Preis haben Sie persönlich dafür gezahlt, 30 Jahre lang hohe politische Ämter ausgefüllt zu haben?
Ich bin nicht mehr das sonnige Gemüt, das ich früher war. Man wird härter.
Was hat Sie am meisten geschmerzt all die Jahre?
Dass wir, mein Mann und ich, solange nicht ins Kino gehen konnten! Sie konnten sich einfach für den nächsten Samstag nichts vornehmen. Weil an dem Samstag irgendwo ein Parteitag war oder eine Veranstaltung, auf der man eine Rede halten musste. Das heißt, private Planungen – Theater, Kino, Musikunterricht nehmen – , das können Sie alles abschreiben. Dafür haben Sie keine Zeit.
Scheint nicht besonders gesund zu sein, so ein Leben.
(lacht) Wenn Sie morgens gerne etwas gemütlicher Ihren Tee trinken möchten, dann ist das nicht der richtige Job.
Man ist trotzdem bereit, diesen Preis zu bezahlen, weil man im Gegenzug mit Ruhm und Macht ausgestattet wird?
Weil man im Gegenzug das Gefühl hat, man kann etwas durchsetzen. Ruhm haben Sie relativ schnell. Ich war eine der ersten Frauen in der Politik, ich musste nicht ganz so wild dahinterher sein, dass die Leute wissen, wer ich überhaupt bin. Aber der Preis ist natürlich: Wenn Sie etwas verändern wollen, müssen Sie versuchen, nach oben zu kommen, ob nun in Kirche, Gewerkschaften oder Politik. Und das ist halt anstrengend.
Die Tatsache, eine Frau zu sein, hat zusätzlich Kraft und Durchsetzungsfähigkeit abverlangt?
Das würden Ihnen wohl alle Frauen bestätigen, die in der Politik etwas geworden sind. Aber es wird zum Glück besser. Als ich anfing, war ich bei vielem noch die erste und einzige Frau: Finanzministerin, Ministerpräsidentin, Tarifverhandlungsführerin für die Länder.
Egal ob Mann oder Frau: Ohne ein Mindestmaß an Eitelkeit und Rauflust hat niemand eine Chance, an vorderster Stelle politisch gestaltend wirken zu können?
Ja! Einsteigen, wie ich das immer nannte ...
... in ein Thema politisch so richtig reingrätschen?
Ja: Jetzt steige ich in eine Sache ein.
Selbstzweifel darf man dabei nicht aufkommen lassen?
Doch, sonst würde man ja unerträglich werden. Aber es darf nicht so sein, dass man immer nur überlegt: Habe ich das jetzt richtig gemacht? Manchmal sind spontane Reaktionen besser, manchmal geplante. Wenn man spontan einschreitet, dann muss man damit rechnen, dass man etwas sagt, was Ärger hervorbringt. Weil: Es platzt dann ja so raus. Wenn man alles überlegter macht, dann ist man etwas langweiliger.
Womöglich geht es im politischen Alltag auch nicht anders zu, als man es sonst ab und an im Leben beobachten kann: Inwieweit beherrschen Intrigen den Politikbetrieb?
Sehr, wie man bei mir gesehen hat. Es war keine offene Intrige, das wäre mir lieber gewesen. Es war eine nicht voraussehbare Intrige, die zum Leben eines Politikers gehört. In so herber Form zum  Glück aber nicht immer.
Intrigen sind ohne politische Seilschaften nicht denkbar? Du hilfst mir, ich stütze dich?
Ja. Deswegen sagen Frauen ja häufig, dass Vernetzen besser ist. Vernetzen läuft nämlich auf gleicher Ebene, auf Augenhöhe. Da kann man miteinander reden, auch wenn man nicht in der gleichen Partei ist oder unterschiedliche Fachgebiete hat. Bei einer Seilschaft ist einer oben und einer unten, Seilschaften sind typische Männergeschichten. Der oben geht voran und man denkt, er zieht die anderen mit, die noch unten sind. In Wirklichkeit ist es so, dass der unten, der Letzte und Schwächste eigentlich, genau weiß, dass er den oben mit aller Kraft hochdrücken muss. Denn erst wenn der da oben über die Kante kommt, dann habe ich unten als Letzter noch die Chance, irgendwo was werden zu können. So handeln Frauen fast überhaupt nicht.
Wobei denjenigen, die unten stehen, oftmals erst ganz schmerzlich auf den Schultern rumgetrampelt wird bei den Versuchen der anderen, nach oben zu gelangen.
Richtig. Aber das lassen die natürlich trotzdem zu, weil sie wissen: Wenn der oben das schafft, dann befinde ich mich in der richtigen Gesellschaft. Beim Andenpakt ...
... einer Seilschaft innerhalb der CDU, der nur Männer angehörten und deren Mitglieder sich gegenseitige Unterstützung beim politischen Aufstieg versprachen ...
... bei dieser Seilschaft hat man das Prinzip wunderbar beobachten können. Ich finde Netzwerke besser: Leute kennen, anrufen und sehen, dass man selber durchkommt. Wenn Sie sich schrecklich viel vornehmen, was Sie alles werden wollen, dann müssen Sie damit rechnen, dass Sie schrecklich stark gebremst werden.
 
War es zu Ihrer Zeit möglich, auch Freundschaften zu schließen in der Politik?
Nur ganz wenige. Aber wenn, dann auch mit Leuten aus anderen Parteien.
Peer Steinbrück, 1993 bis 1998 Minister in Ihrem Kabinett und jetzt möglicher SPD-Kanzlerkandidat, hat wahrscheinlich nicht dazu gehört?
Nicht unbedingt, wie ich kürzlich einem Presseartikel entnommen habe.
Wie sehr nervt es, wenn er Sie heute als misstrauisch, manchmal auch unbeherrscht oder gar cholerisch darstellt?
Er hat das offensichtlich so gesehen, das muss ich akzeptieren. Doch wenn jemand erst Jahre später damit ankommt, dann überrascht es einen schon ein bisschen.
Ihr Politikausstieg 2005 war mit vielen Schmerzen verbunden. Von heute aus betrachtet: War er nicht auch eine Befreiung?
Ja, wenn man es schafft, neue und andere Dinge zu machen. Ich mache jetzt Sachen, an die früher nicht zu denken war. Mein Mann und ich wurden vor einiger Zeit eingeladen, in Südkorea vor Politik und Wirtschaft Vorträge zu halten unter anderem über Kosten der Wiedervereinigung und Probleme der Umwelt. Früher hätte ich absagen müssen: Was? Vortrag in Südkorea? Leute, ich habe keine Zeit!
Als eine Befreiung von Zwängen, denen man als Politikerin unterworfen ist, die wiedergewählt werden möchte, haben Sie ihn nicht empfunden?
Das auch, ja. Aber so ganz die wilde Sau rauslassen würde ich auch jetzt nicht.
Wer oder was ist Heide Simonis heute?
Eine Frau, die relativ zufrieden ist mit ihrem Leben. Wie gesagt, ich muss die Leiche noch finden - die für meinen Kriminalroman (lacht). Ich merke, ein angenehmer Vorteil meines jetzigen Lebens ist, dass man nicht mehr so sehr rasen muss. Ich kann meine Zeit ein bisschen mehr auf meine Hobbys zuschneiden. Und dann gibt es ja auch noch eine Menge Sachen, über die ich meinen Schirm halte – Palliativmedizin, suchtgefährdete Frauen oder Frauen, die Gewalt ausgesetzt sind.
Wie eng sind Sie noch an aktiver Politik angedockt, werden Sie gelegentlich um Rat gefragt?
Nein, ich würde auch keinen Rat geben. Ralf Stegner (SPD-Landesvorsitzender, d. Red.) habe ich mal gesagt, er solle die Fliege ablegen (lacht). Jeder hat sich über diese Fliege lustig gemacht! Also: Zieh das verdammte Ding aus, damit die Leute sich mit deinen Gedanken beschäftigen und nicht mit deiner Fliege. Und wie man ja sieht, trägt er jetzt sehr häufig gar nichts, weder Fliege noch Krawatte. Und das steht ihm gut.
Wir schlussfolgern: In der SPD wird auf Heide Simonis doch noch gehört.

Ich nehme an, seine Frau wird ihn auch schon mal gebeten haben, das eine oder andere vielleicht zu ändern.

Heide Simonis war von 1993 bis 2005 Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein. Bei ihrer geplanten Wiederwahl im Landtag im März 2005 fehlte der SPD-Politikerin in vier Wahlgängen jeweils eine Stimme, was das Ende ihrer langjährigen politischen Karriere bedeutete. Bis heute ist unbekannt, wer als sogenannter Heide-Mörder in die Geschichte des Landes einging. Simonis selbst war lange davon überzeugt, dass es nur ein männliches Mitglied ihrer eigenen Fraktion gewesen sein konnte. Inzwischen sagt sie, sich nicht mehr sicher zu sein, es habe auch eine Frau gewesen sein können. Von Oktober 2005 bis Anfang 2008 war Simonis ehrenamtliche Vorsitzende von Unicef-Deutschland. Im Rahmen ihres Engagements für das Kinderhilfswerk nahm sie 2006 an dem RTL-Fernsehtanzturnier „Let's dance“ teil, was von der Bild-Zeitung mit Häme begleitet wurde. Die in diesem Monat, am 4. Juli, 69 Jahre alt werdende Heide Simonis ist mit dem Ökonomie-Professor Udo Simonis verheiratet und lebt in Kiel.

Erschienen in:
HEMPELS Straßenmagazin im Juli 2012