Junge Flüchtlinge und Zugang zu Bildung
Abdouls großer Stolz ist aus „100 Prozent Polyacryl“, braun, weiß und rot. „Ein Geschenk“, sagt Abdoul, „gelb und schwarz wären noch schöner.“
Ein kalter Hamburger Frühwintertag. In einem Café auf St. Pauli ist man mit dem jungen Flüchtling verabredet, und Abdoul strahlt, weil man seinen FC St. Pauli-Fanschal gleich bemerkt hat. Über den Alltag in Deutschland will der vor fünf Jahren aus Guinea allein nach Hamburg Gekommene und gerade 18-Jährige etwas erzählen, will Fragen zu Schule und beruflichen Zielen beantworten. Aber jetzt muss er zunächst erst mal ein paar Sätze zum Fußball loswerden.
Eigentlich schlägt sein Herz nämlich für Gelb-Schwarz, für „den BVB aus Dortmund, und dann erst für St. Pauli“. Die junge Bedienung in dem zu dieser Stunde ziemlich leeren Café mit St. Pauli-Fanzinen auf dem Tresen tut einfach mal so, als habe sie das ganz freundlich überhört. Mit am Tisch sitzt Markus Schneider-Johnen, Diplom-Sozialpädagoge und Mitarbeiter einer Jugendwohnung für junge Flüchtlinge, in der Abdoul bis vor kurzem gelebt hat. „Man kann stundenlang mit ihm über Fußball und Bundesliga reden“, sagt Schneider-Johnen, „in seinem Kopf ist alles abgespeichert; niemand macht ihm so schnell etwas vor.“
Abdoul scheint angekommen zu sein in seiner neuen Heimat – zumindest bei den wichtigen Dingen des Fußballs. Angekommen auch im Alltag darüber hinaus?

Zahl der Flüchtlinge steigt
Seit ein paar Jahren verzeichnet Hamburg wieder stark steigende Zahlen auch minderjähriger Flüchtlinge. Junge Menschen, geflohen vor Bürgerkrieg, Hunger oder Elend, Menschen wie Abdoul, der 13-jährig mit Hilfe eines Onkels und von Schleusern seine Heimat verließ, nachdem die Familie wegen ethnischer Auseinandersetzungen um ihr Leben fürchtete. Das Haus war zerstört worden, Eltern, Bruder und Schwester vertrieben. Bis heute weiß er nicht, ob die Angehörigen noch leben.
Der für die Aufnahme minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge wie Abdoul zuständige Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) rechnete Mitte November mit rund 1 050 vorläufigen Inobhutnahmen für das Jahr 2014, die meisten Flüchtlinge sind um die 16 Jahre alt. Tatsächlich gemeldet hatten sich sogar rund 1 800 Menschen. Nicht bei allen dieser oft ohne Ausweispapiere Geflohenen akzeptiert die Ausländerbehörde das angegebene Alter. Offiziell wurden deshalb nur rund 770 unbegleitete Flüchtlinge auch als minderjährig anerkannt.
Weitere rund 750 in Familienverbünden zugewanderte Kinder und Jugendliche zählen die sieben Hamburger Erstaufnahmeeinrichtungen, in denen die Menschen eigentlich nur in den ersten drei Monaten unterkommen sollen. Weitere 8 000 Flüchtlinge leben momentan in sogenannten Folgeunterkünften, auch unter ihnen viele Minderjährige. Monatlich stranden 700 Flüchtlinge in der Hansestadt.
Kurz vor halb acht, der Morgen dämmert. Zwölf, vielleicht 13 Jahre alt ist der Junge, der auf einem gepflasterten Hof mit einem Ball spielt. Aus Serbien stamme er, erzählt er in einfachem Deutsch. Seit August sei er in Deutschland, mit Mutter und zwei jüngeren Geschwistern lebe er nebenan in einem der großen Zelte. Welche Wünsche hat er, wo ist der Vater? Er zuckt mit den Schultern, tritt gegen den Ball und sagt: „Ist kalt.“
Hier in Hamburg-Harburg, eingeklemmt zwischen Bahngleisen und einer Autobahn, ist seit vergangenem Juli in einem Teil eines früheren Postgebäudes die Zentrale Erstaufnahme der Hansestadt eingerichtet. Auf der Autobahn rauschen die Laster schon früh am Morgen pausenlos vorbei, neben den Zelten brummen Stromgeneratoren, um warme Luft ins Innere zu blasen. In Harburg werden alle ankommenden Flüchtlinge registriert. 450 aus 33 Nationen lebten zum Zeitpunkt des Besuchs Mitte November dort, 250 im ehemaligen Postgebäude, die anderen zumeist in Zelten für jeweils 30 Menschen. Einige waren von dort bereits in neu aufgestellte Container umgezogen. An weiteren Blechunterkünften wurde noch geschraubt, bald danach sollten zumindest alle Zelte verschwunden sein.

Hilfe in größter Not
Frank Stolzenburg arbeitet als Diplom-Sozialpädagoge in der Harburger Erstaufnahme. In seinem Büro hängt ein Plakat von Amnesty International, darauf ein Mann hinter Gitterstäben mit Picassos Friedenstaube. „Passt irgendwie zu unserer Arbeit“, sagt Stolzenburg, „wir helfen Menschen in größter Not.“ Seine Empathie ist aus jedem Satz herauszuhören, und wenn man sich einen guten halben Tag in Harburg aufhält, trifft man auf viele Menschen wie ihn.
In Hamburg gilt für neu angekommene jugendliche Flüchtlinge die Schulpflicht. Unbegleitete bekommen Sprachangebote und werden sofort zum Schulbesuch angemeldet. Jugendliche in Familienbegleitung erhalten zunächst – und für die Dauer ihres dortigen Aufenthalts – in den Erstaufnahmeeinrichtungen Unterricht durch Lehrkräfte, die die Schulbehörde abgeordnet hat. Insgesamt 15 Lerngruppen gibt es. Nicht länger als drei Monate soll es dauern, bis Flüchtlinge die Erstaufnahme wieder verlassen. Wegen fehlender Folgeeinrichtungen leben hier aber knapp 1 200 Menschen, fast ein Drittel, zum Teil deutlich länger. Für Kinder heißt das, solange in der Erstaufnahme unterrichtet zu werden, vor allem in der deutschen Sprache und der Vermittlung neuer Werte.
In Harburg sind zwei dieser bis zu 15 Plätze großen Gruppen eingerichtet, eine für sechs- bis zwölfjährige Kinder, eine für die bis zu 18-Jährigen. Mit aufgeschlossenen Mädchen und Jungen habe sie zu tun, sagt eine Lehrkraft, die nicht namentlich zitiert werden möchte. Mit jungen Menschen, die mal wissbegierig seien, mal verschlossen und „dann natürlich erst lernen müssen, einem fremden Menschen zu vertrauen“. Keine Probleme bei der Arbeit? „Doch, klar“, antwortet die Lehrkraft, „auch für uns ist das eine Herausforderung. Aber wenn ich Unterstützung bei einem Problem brauche, reicht ein Anruf in der Schulbehörde.“

Besondere Herausforderung
Auch für die Kinder ist der Unterricht eine besondere Herausforderung. Ständige Wechsel in den Lerngruppen, einige Kinder sind nur für ein paar Tage da, andere bleiben sechs oder mehr Monate. Ruhe und Abgeschiedenheit zum Lernen gibt es in den Unterkünften nicht. Manchmal leben bis zu acht Menschen in einem Raum, in den Zelten sind es dreißig. Afrikaner zusammen mit Arabern oder Menschen vom Balkan mit ihren verschiedensten kulturellen Hintergründen, Gebildete mit Analphabeten, lernwillige junge Menschen an der Seite lernunwilliger. Stolzenburg sagt: „Man muss natürlich immer hoffen, dass sie sich untereinander arrangieren.“
Wenn junge Flüchtlinge irgendwann die Erstaufnahme hinter sich gelassen haben, werden die, die jünger als 16 Jahre sind, in sogenannte Internationale Vorbereitungsklassen (IVK) oder Basis-Klassen an Regelschulen geschickt, dorthin, wo die unbegleiteten gleichen Alters bereits sind. Weiterer Sprachaufbau ist dann vorgesehen. Nach einem Jahr wechseln sie altersgemäß in Regelklassen des allgemeinbildenden Schulsystems.
Die älteren kommen von der Erstaufnahme direkt an eine der augenblicklich 13 beruflichen Schulen mit speziellen, meist zweijährigen Auffangklassen. Das „Vorbereitungsjahr für Migranten“ (VJ-M) ist gedacht für Jugendliche ohne Daueraufenthaltsstatus, sie bekommen dort allgemeinen Unterricht (nämlich allgemeinen Unterricht für diese Flüchtlingsgruppe; nicht: sie besuchen dort den allgemeinen Unterricht). Das „Berufsvorbereitungsjahr für Migranten“ (BVJ-M) soll junge Menschen mit Status „für einen erfolgreichen Übergang in Ausbildung und Arbeit qualifizieren“. Mit Beginn des laufenden Schuljahres wurde zudem das Pilotprojekt „Dualisierte Ausbildungsvorbereitung für Migranten“ (AV-M) gestartet. An vier berufsbildenden Schulen sollen 180 Jugendliche zwei Jahre lang über verzahntes Lernen in Schule und Betrieb an berufliche Praxis herangeführt werden.
Jeder könne an den beruflichen Schulen auch den ersten oder mittleren allgemeinen Bildungsabschluss machen, heißt es in der Schulbehörde. Insgesamt stehe man vor einer großen Herausforderung. Allein 116 IVK- sowie 27 Basisklassen mit zusammen gut 1 700 Schülerinnen und Schülern gebe es an den allgemeinbildenden Schulen. Dafür ständen 14,1 Millionen Euro im Jahr bereit, „mit weiterem Anstieg wird gerechnet“.

„Mein bestes Schuljahr“
Zurück ins Café auf St. Pauli, zurück zu Abdoul, der eigentlich anders heißt. In Guinea war er vier Jahre zur Schule gegangen. Als er nach Hamburg kam, wurde er in einer IVK-Klasse an einer Gemeinschaftsschule untergebracht. „Mein bestes Schuljahr bisher“, sagt Abdoul in ganz ordentlichem Deutsch. Dann kam er in eine 8. Regelschulklasse, wo „alle so schnell gesprochen und schwere Wörter benutzt haben“. An einer Staatlichen Fremdsprachenschule hat er im Sommer den Hauptschulabschluss geschafft. „Die Tutoren haben dort seine Bedürfnisse erkannt“, so Betreuer Schneider-Johnen, „an der Regelschule wurde über die Köpfe hinweg unterrichtet.“ Und regelmäßig fehlten ihm Schultage, weil der Asylantrag abgelehnt worden war und er bis heute alle paar Wochen ganze Tage in der Ausländerbehörde verbringen muss, um seine Duldung zu verlängern. Ein Problem, das vielen Jugendlichen zu schaffen macht.
„Es gibt Leute, die besitzen wegen der völlig überlaufenen Ausländerbehörde nach zwei Monaten noch keine Aufenthaltspapiere“, so Werner Kopp, „ohne Papiere keine Anmeldung an einer Schule.“ Diplom-Pädagoge Kopp betreut in der Kinder- und Jugendhilfe junge Flüchtlinge in Wohnprojekten und spricht für den „Arbeitskreis Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge“, einem Zusammenschluss von Mitarbeitern aus Jugendhilfeeinrichtungen, Beratungsstellen, Jugendämtern und Privatvormündern; an der Uni Hamburg ist er Lehrbeauftragter im Bildungsgang Mehrsprachigkeit und Bildung.
Als großes Problem an den Schulen sieht Kopp die noch nicht ausreichenden Kapazitäten und die Qualifizierung der Beschäftigten. „In der Struktur ist das heutige System ja eigentlich ganz okay“, so der langjährig Erfahrene auch mit Blick auf frühere Jahre, „und wir haben gute Lehrkräfte an den Schulen. Nur auf die besonderen Herausforderungen ist man noch nicht genügend vorbereitet.“ Ähnlich sieht man es bei der GEW Hamburg. Fredrik Dehnerdt, stellvertretender Landesvorsitzender: „Es muss überall noch kräftig nachgelegt werden, angefangen schon bei den Lebensbedingungen. Ohne vernünftige Lebensbedingungen kann es auch keine guten Lernbedingungen geben.“
Beim Hamburger Institut für Berufliche Bildung (HIBB) lässt Hartmut Sturm solche Kritik nur bedingt gelten. Seit Jahren würden über das „Landesinstitut für Lehrerbildung“ Fortbildungsangebote bereitgehalten. Aber „zum Teil wurde das Angebot so schlecht genutzt, dass man es wieder verknappt hat“. Inzwischen nehme die Nachfrage „dramatisch“ zu, man baue Angebote aus: „Das dauert; aber ich glaube, wir schaffen das in den kommenden Monaten.“

Viele Steine wegräumen
Manchmal sind es schon die scheinbar kleinen Dinge, die einer erfolgreichen Zukunft junger Flüchtlinge im Weg stehen können. Von vielen Steinen, die er immer wieder wegräumen müsse, spricht ein Privatvormund und bittet darum, seinen Namen zum Schutz des Mündels nicht zu nennen. Mit acht Jahren war der Junge von seinen Eltern verlassen worden und glaubte, sie seien nach Deutschland geflohen. Dort wollte er mit 13 nach ihnen suchen, gefunden hat er sie weder während seiner mehrmonatigen Flucht noch jetzt in Deutschland. Trotz fehlender Alphabetisierung im Heimatland komme er an der Regelschule inzwischen „von Monat zu Monat besser zurecht“. Der Junge wolle sich unbedingt integrieren, spiele auch in einem Verein Fußball, sagt der Vormund, „aber dann passieren andere Dinge, die offenbar schwerer wiegen“. Einmal habe sich sein Mündel auf dem Schulhof mit einem anderen Jungen geprügelt, so wie es in dem Alter manchmal passiert. Von der Schule wurde das bei der Polizei angezeigt, bei Körperverletzungen sei man dazu verpflichtet. Die Anzeige ist längst eingestellt, die Jungs haben sich die Hand gegeben, „aber der Vermerk in seiner Akte bei der Ausländerbehörde bleibt und scheint Hindernis für eine Aufenthaltserlaubnis zu sein“.
Auch der Guineer Abdoul hat wohl noch einen langen Weg vor sich, bis er irgendwann tatsächlich angekommen sein könnte. Seit August besucht er das für Flüchtlinge wie ihn geschaffene AV-M-Pilotprojekt. Pflegeassistent will er mal werden, mehr als zwanzig Bewerbungen für den erforderlichen Praktikumsplatz hat er verschickt. Gegriffen hat bislang keine.
Vorerst sucht er weiterhin Ablenkung über den Fußball. Im Augenblick absolviert er bei einem Bezirksliga-Verein ein Probetraining. „Vielleicht wollen sie mich“, hat er die Hoffnung nicht aufgegeben. Vielleicht, sagt Abdoul, klappen die anderen Dinge irgendwann ja auch.

Erschienen in: Erziehung & Wissenschaft, Zeitung der GEW; Januar 2015