Musiker Heinz Ratz
Mit „Moralischem Triathlon“ für Obdachlose und
Flüchtlinge
ätet, ein paar Minuten nur, aber Heinz Ratz will sich jetzt doch zunächst erst einmal entschuldigen, dass er von unterwegs nicht durchgerufen hat. Sein Handy ist gerade kaputt. Nun steht er da also, die Hände noch tief in den Taschen eines dicken Kapuzenpullovers vergraben, schaut eher schüchtern zur Bedienung und bestellt sich einen Tee
Das Café eines zu einem Veranstaltungszentrum umgerüsteten alten Kieler Schwimmbades hat er sich für das Interview ausgesucht, ein Ort wie er passender kaum sein könnte für einen, der schon lange auf deutschen Musikbühnen zu Hause ist. Heinz Ratz, mit insgesamt 47 Wohnungsumzügen früher überall und nirgendwo zu Hause und seit 2005 in Kiel dann doch noch heimisch geworden, ist viel beschäftigt, als Sänger, Musiker und Autor. Am 27. Februar 2013 startet in München seine mehrmonatige Deutschland-Tour, die ihn auch in verschiedene Städte Schleswig-Holsteins führen wird, im März kommt zudem ein neuer 70-Minuten-Film über ihn in die Kinos. Und wie immer wird Ratz dann wieder die Öffentlichkeit nutzen, um auf gesellschaftlichen Missstand hinzuweisen, so wie er ihn sieht. Mit Tour, dazugehörender CD und Film rückt der 44-Jährige das Schicksal von Flüchtlingen in den Fokus, die in Deutschland abgeschottet in Lagern leben. Die Einnahmen will er Flüchtlingen zur Verfügung stellen.
Bereits 2011, als Vervollständigung seines sogenannten „Moralischen Triathlons, von dem später noch die Rede sein wird, war Ratz drei Monate lang bei Wind und Wetter 5500 Kilometer auf dem Fahrrad durch Deutschland unterwegs und hat dabei 70 Flüchtlingsunterkünfte besucht. Abends trat er mit seiner Band Strom & Wasser bei öffentlichen Konzerten auf, um die „erbärmlichen Bedingungen“ anzuklagen, unter denen die Menschen existieren. Schon damals haben Ratz und seine Musikerkollegen den Erlös dieser zusammen mit Pro Asyl organisierten „Tour der 1000 Brücken“, knapp 17.000 Euro, vor Ort der jeweiligen Flüchtlingsarbeit überlassen. Aus Sicht der Musiker nicht weniger bedeutend: Bei den Begegnungen in den Lagern haben sie Flüchtlinge kennen gelernt, die selbst hervorragende Musiker sind.
Inzwischen ist daraus eine eigene Gruppe The Refugees entstanden, welche Ratz in den kommenden Monaten bei seiner neuen Tournee begleiten wird - acht bis zehn aus Afrika, Osteuropa, Afghanistan und Griechenland stammende Frauen und Männer mit einer „modernen musikalischen Mischung aus Reggae, Ska und Balkanbeat“, so Ratz. Diesen Monat erscheint eine weitere CD. Schon vergangenen Herbst wurde Ratz auf Vorschlag der Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Bundestag, Renate Künast und Jürgen Trittin, für sein besonderes Engagement für Flüchtlinge von Staatsministerin Maria Böhmer (CDU) mit der Integrationsmedaille der Bundesregierung geehrt.
Jetzt im Kieler Bad-Café spricht Ratz so, wie seine Ausstrahlung ist, ruhig und freundlich, meist eine Hand an der Teetasse, als wolle er sich festhalten, dabei keinerlei Gewese um die eigene Person machend, wie man es manchmal mit anderen Künstlern erlebt. Eigentlich sei er ein eher introvertierter und stiller Mensch, sagt er einmal fast beiläufig, „aber im Moment ist alles politisch, was ich tue. Ich will die Musik nutzen, um gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken.“
Ratz ist neugierig, er interessiert sich für die Menschen und deren Welt und ist entschlossen, dort die Stirn zu bieten, wo er anderer Leute Ohnmacht als bedrückend wahrnimmt und ihm Diskriminierung bodenlos vorkommt - und erfand kurzerhand den „Moralischen Triathlon“: Als erste Etappe wanderte er schon 2008 960 Kilometer weit durch Deutschland, um mit diesem sogenannten „Lauf gegen die Kälte“ bei den abendlichen Konzerten Geld für Obdachlose zu sammeln, insgesamt 18.000 Euro. Im Frühsommer 2009 schwamm er dann im Rahmen seines Flussprojekts 870 Kilometer zwischen Lindau am Bodensee und Kiel und wies so auf das Artensterben hin. Und schließlich sein 2011 begonnenes 5500 Kilometer langes auf dem Fahrrad absolviertes Flüchtlingsprojekt, mit dem er seinen ungewöhnlichen Triathlon komplettierte. Um anderswo herrschendes Unglück zu benennen, verknüpft Ratz künstlerische Arbeit so immer wieder mit Aufmerksamkeit erzeugenden sportlichen Herausforderungen.
Warum tut er das, warum stellt jemand soviel Zeit und physische wie psychische Energie zur Verfügung, um die Not von Obdachlosen und Flüchtlingen sowie den Raubbau an der Natur in den Fokus zu rücken? Ratz schaut überrascht von seinem Tee auf, dreht die Tasse langsam zwischen den Fingern und sagt schließlich, dass er viel Kraft daraus ziehe, „das zu tun, wovon ich überzeugt bin. So wie es schwache Menschen krank macht, tun zu müssen, was sie eigentlich nicht tun wollen.“ Schwache und in seinem Verständnis rechtlose Menschen wie Flüchtlinge beispielsweise, die in irgendwelchen Lagern leben ohne Geld, Arbeit oder Bildung. Und denen es über die sogenannte Residenzpflicht auch verboten ist, ihren jeweiligen Aufenthaltsort zu verlassen. „Wir zwingen diese Menschen zu einem geistigen Stillstand“, sagt Ratz, viele von ihnen mache dieser Zustand depressiv.
Wo Menschenwürde verletzt wird, bedarf es immer öffentlich formulierten Protest, man darf nie aufgeben. Ratz weiß das, deshalb hat er, der Sänger, Dichter und Buchautor, längst „den Bereich des Wortes mit dem Bereich der Tat“ verwoben. Bis auf den Tag ist er fest überzeugt davon, dass es lohnt, für Menschlichkeit zu streiten in einer Gesellschaft, die er als „immer egoistischer und extrem materiell“ wahrnimmt. Ratz selbst lebt während seiner Projekte vom Verkauf eigener CD's und Bücher, „würde ich nicht so viele politische Aktionen machen, wären meine Finanzen natürlich besser, aber ich komme durch.“ Mit seinem Handeln wolle er einen Beitrag dazu leisten, dass sich gesellschaftliche Werte verändern, sagt Ratz, „nicht Gier und Besitz sollten den Menschen bestimmen, sondern soziales Denken“. Soziales Denken, fügt der Sohn einer peruanischen Indigina und eines deutschen Arztes noch hinzu, das sich im Idealfall am Wertegerüst indianischer Völker orientiert: „Angesehen ist dort, wer abgibt, nicht wer besitzt“.
Dann muss er schnell los, der Tee ist auch längst ausgetrunken. Seiner kleinen Tochter hat er versprochen, sie von der Schule abzuholen, zu spät kommen will er auf keinen Fall.
 
Beistelltext:
Zahl der Flüchtlinge stark ansteigend
Die Zahl der nach Deutschland einreisenden Flüchtlinge steigt seit einigen Jahren wieder heftig an. Zurzeit halten sich hier gut 78.000 Menschen mit offenem Asylverfahren auf, Ende 2011 waren es erst 62.680. Als hauptsächliche Herkunftsländer nennt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Serbien, Mazedonien, Syrien, Afghanistan, Iran und Irak. Angesichts des explodierenden Zustroms stellte eine Stadt wie Hamburg kürzlich Großraumzelte auf, um diese Menschen vorläufig unterzubringen.
Sprunghaft angestiegen ist in letzter Zeit vor allem die Roma-Zuwanderung aus den Balkan-Ländern. Mit zehn bis zwölf Millionen Menschen gehören die Roma in Europa zur größten und wohl ärmsten Minderheit. Jährlich zehntausende Roma, deren Vorfahren vor etwa tausend Jahren aus Indien kamen, suchen inzwischen in den westlichen EU-Staaten Zuflucht, weil sie in ihren Heimatländern von ihren Regierungen vergessen wurden und Diskriminierung und Armut ausgesetzt sind. Roma aus Bulgarien und Rumänien dürfen als EU-Bürger ohne Beschränkung ins vermeintliche Paradies auswandern, wo die meisten dann doch nur in Elendsquartieren stranden ohne Chance auf Arbeit. Roma aus anderen Ländern wie Serbien und Mazedonien, dem ehemaligen Jugoslawien, bleibt in Deutschland nur der Asylantrag. In der Regel haben sie dabei jedoch keine Chance auf Erfolg; praktisch alle Asylanträge von ihnen werden in Deutschland abgelehnt. Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge heißt es, dass bei der „überwiegenden Mehrheit“ der serbischen und mazedonischen Asylantragsteller „wirtschaftliche Gründe“ eine Rolle spielen beim Asylantrag. Asyl bekommt in Deutschland jedoch nur, wer als politisch verfolgt gilt.                                  
 
Infobox:
Die Lagertour 2013
von Heinz Ratz und seiner Band Strom & Wasser zusammen mit der Flüchtlingsband The Refugees startet am 27. Februar in München. Wegen der für Flüchtlinge geltenden Residenzpflicht muss vor jedem Auftritt erst die Erlaubnis eingeholt werden, dass die Musiker der Refugees mitwirken können. In der Regel besteht diese Gruppe aus acht bis zehn Frauen und Männern. Mit dem Erlös der Tour und der in diesem Monat erscheinenden CD sollen Sport- und Musikunterricht für jugendliche Flüchtlinge finanziert werden. In mehreren Städten wird jeweils am Tag nach dem Konzert der Besuch eines Flüchtlingslagers organisiert, um über die Bedingungen zu informieren, unter denen Menschen dort leben müssen. Alle Tourdaten und weitere Infos: www.1000bruecken.de
                                  
Erschienen in:
HEMPELS Straßenmagazin, Januar 2013
Publik-Forum, März 2013