Schreibwerkstatt für Gefangene in der JVA Lübeck

Gerade ist hinter einem wieder eine dieser zentnerschweren Türen dumpf krachend in die Schlösser geschlagen, am anderen Ende des mit Kunstlicht ausgeleuchteten Flures wartet bereits das nächste hellgrau lackierte Bollwerk aus Eisen und Stahl. Wie alle Gefängnisse wirkt auch die Justizvollzugsanstalt Lübeck – ein hinter Mauern und Stacheldraht nach außen hermetisch abgeriegelter Ort – auf den Besucher wie eine Festung aus ferner Zeit. Etwa 440 Männer leben zur Zeit in Schleswig-Holsteins größtem Knast, in einem separatem Trakt weitere rund 40 Frauen. Und wie sonst hinter Gittern auch, darf Leben hier keineswegs mit Wohnen verwechselt werden, wer an einem solchen Ort feststeckt, hat zuvor gegen gesellschaftliche Normen und Gesetze verstoßen. In Lübeck verbüßen Langzeit-Gefangene ihre Strafen – wegen Mord oder Totschlag Verurteilte, dazu all die Räuber, Drogendealer, Betrüger.

Freitagnachmittags, ein vergitterter Unterrichtsraum abseits der Zellentrakte. Seit dem Frühsommer treffen sich dort alle zwei Wochen Gefangene zur HEMPELS-Schreibwerkstatt. Alle
kommen freiwillig, einige kannten sich bereits vorher aus dem Knastalltag. Jetzt sollen sie sich eigene Themen suchen, sollen über ihre Gedanken und Gefühle dazu sprechen und diese später auf ihrer Zelle schriftlich ausformulieren. Keiner hatte zuvor in seinem Leben eigene Texte geschrieben, alle haben bisher höchstens im Zusammenhang mit einer Straftat schon mal über sich in der Zeitung lesen können. Freunde, denen man vorher von der Werkstattidee erzählt hatte, tippten: „Die schreiben dann eben, Knast ist große Scheiße.“

Günter, 41, ein Kerl wie eine Eiche mit streichholzkopfkurz rasiertem Haupt, der wie alle Gefangenen aus dieser Geschichte im wahren Leben auf einen anderen Namen hört, glaubt, im Knast ein fauler Mensch geworden zu sein. Seit fast elf Jahren sitzt er ein, lebenslänglich wegen Mord, „mein geistiges Niveau ist über die Zeit immer weniger geworden.“ Vielleicht, wenn alles gut läuft, kann er in vier oder fünf Jahren mit vorzeitiger Entlassung rechnen. Zur Schreibwerkstatt ist er auch deshalb gekommen, „weil ich dann nicht mehr vor mir selbst weglaufen kann. Termin ist Termin, der lässt sich nicht verschieben.“ Ein anderer spricht davon, dass es ihm nach drei Jahren Haft schwerfalle, sich auszudrücken. Mit seinen Mitgefangenen unterhalte er sich kaum, weil die „zu oft über ihre Tat sprechen, ich würde lieber schreiben als reden.“ Und Rainer, 37, zu sieben Jahren verurteilter Drogendealer, will zeigen, „dass wir nicht nur diese eine Facette haben, wegen
der wir hier drinnen sind.“

Es sind gestrauchelte und vorerst ein Stück weit gescheiterte Menschen, die alle zwei Wochen mit Block und Kugelschreiber den Gruppenraum betreten. Ihre Schwierigkeiten haben nicht erst mit dem Knast begonnen, das Leben da drinnen spiegelt bloß draußen Erlerntes. „Ihr müsst euch gegenseitig vertrauen, müsst auch bereit sein, eure Texte zu kritisieren, ohne dabei verletzend zu werden “, versucht man ihnen in der ersten Sitzung als Arbeitsleitplanke mit auf den Weg zu geben. Und hört dann doch erst einmal viele Geschichten dazu, wie in der Vergangenheit Offenheit und Vertrauen allzu oft scheinbar hintergangen wurden. Günter, der Lebenslängliche,
der eigentlich nicht mehr weglaufen will vor seinen Problemen, formuliert jetzt Zweifel. „Wer will schon was lesen von uns? Für die Leute draußen sind wir doch bloß Monster.“ – „Willst du irgendwann mal entlassen werden?“, hält Rainer, der Drogendealer, ihm entgegen, „dann zeig deine anderen Seiten, zeig, dass du was kannst.“

Einander zuhören, sich Dinge zutrauen und mit dem Kugelschreiber in der Hand Werte erschaffen, die über den Tag hinaus Bestand haben können – nicht jeder, der irgendwann im
Knast gelandet ist, hat solche Erfahrungen in seinem Leben schon allzu häufig machen können. „Was denkt ihr, worüber ihr schreiben möchtet, wo wollt ihr euch öffnen, wie dem Leser einen Blick auf eure Seelen ermöglichen?“, will man nun also von ihnen wissen, „welche Emotionen habt ihr, die zeigen, was mit euch los ist?“ Einige beginnen sogleich, Vorschläge zu formulieren, einer sagt bloß, Gefühle seien ihm etwas sehr Privates, „darüber spreche ich nur mit meiner Frau.“ Ob er
Gelegenheit habe, sich mit ihr öfter austauschen zu können? „Wir sind geschieden.“

Nach einigen Wochen klagt Rainer, wie schwer ihm das Schreiben falle. „Sprechen und Schreiben“, stöhnt er, „das sind zwei einander fremde Welten.“ Später liest er eindringlich und dicht formulierte Gedanken über sein Leben als Schwuler im Knast vor. Günter erzählt, wie er vier anstrengende Tage lang eine Schreibidee im Kopf zu ordnen versuchte, vergeblich, „weil ich mich mit emotionalen Themen überfordert fühle.“ – „Überfordert?“, fragt man sofort, „oder fehlt einfach das Zutrauen, der Glaube an dich selbst?“ Beim nächsten Treffen präsentiert er der Runde einen Text
über seine erste Ausführung aus dem Knast hin zum Grab seiner kurz zuvor verstorbenen Mutter. Jahre liegt dieser Tag bereits zurück, doch die damals durchlebten Emotionen wirken in der Beschreibung noch heute ungewöhnlich nah und intensiv. Rainer lobt sogleich, der Text berühre seine Seele. Burghardt, seit fast fünf Jahren wegen Betrug hinter Gittern, überlegt eine Weile, sucht nach Worten. Dann sagt er, kaum einen anderen Gefangenen zu kennen, „der so gut seine Gefühle zum Ausdruck bringen könnte.“ Und Günter, der Lebenslängliche im Langzeitknast? Der sagt jetzt gar nichts. Bestimmt ist er im Stillen stolz darauf, Gutes bescheinigt bekommen zu haben. „Aber Wut ist nicht gleich Wut, Freude nicht Freude“, hat er bei anderer Gelegenheit gesagt, „da gibt
es feine Nuancen, die kannte ich vorher nicht.“

Inzwischen sind etliche Geschichten geschrieben, sind Texte entstanden, die auch ein wenig einen Vorhang heben und Blicke erlauben, die so sonst kaum möglich wären. Keine Zeile wird eine Lebensgeschichte rückgängig machen können, doch jeder fertige Text kann den Schreibern kleine Erfolgserlebnisse auf dem Weg zurück in die Freiheit verschaffen. Den Satz: „Gut gemacht“ bekommen Gefangene wie diese sonst nur selten zu hören, jetzt motiviert er vielleicht, sich neuen Aufgaben ein ums andere Mal mit wachsendem Selbstbewusstsein zu stellen. „Das Schreiben“, hat Günter irgendwann noch gesagt, „kostet mich enorme Anstrengungen. Aber die Beschäftigung
damit ist wohltuend, die normale Knastsprache ist ja eine ganz andere.“

Neulich, auf dem Weg zurück nach draußen, als hinter einem wieder eines dieser Bollwerke in die Schlösser geschlagen war, musste man plötzlich an den neu in die Gruppe dazugekommenen Gefangenen denken. „Über Emotionen rede ich nicht, ich hab hier keine“, hatte der gleich zu Beginn erklärt. „Dann mach einen Text dazu“, haben ihn die anderen aufgefordert. Nicht über alles lässt sich halt sofort auch sprechen, manches muss man vorher vielleicht erst mal aufschreiben.

Erschienen in:
HEMPELS Straßenmagazin im Oktober 2011