Ein wenig schwach wirkt sie an diesem Vormittag, jedenfalls auf den ersten
Blick. Und nachdem sie jetzt tief in einem der wuchtigen Sessel versunken
ist, bei sich zu Hause in ihrer Hamburger Wohnung, da scheint man ihr
einen Moment lang auch so etwas wie Erleichterung anzumerken. Vor sich
auf dem Couchtisch hat Esther Bejarano ein großes Lupenglas liegen,
auf einem Auge ist sie fast blind, das andere wurde bei einer Operation
beschädigt. Klein und zerbrechlich erscheint die 88-Jährige
so, kleiner noch als sie mit ihren 147 Zentimeter Körpergröße
ohnehin ist. Doch woran lässt sich Größe messen, woran
menschliche Stärke?
Man ist an diesem Tag mit einer Überlebenden des Holocausts verabredet,
mit einer der letzten noch Lebenden des Mädchenorchesters aus dem
KZ Auschwitz. Mit einer Frau, die als junges jüdisches Mädchen
die Begleitmusik zum Massenmord des Hitler-Faschismus spielen musste,
um selbst überleben zu können, und die nie wird aufhören
können, von den Schrecknissen damaliger Zeit zu berichten und vor
den Gefahren heutiger neonazistischer Entwicklungen zu warnen. Eine Frau,
die jetzt im hohen Alter auf ihrem Weg der Erinnerung und Mahnung mit
großer Energie noch mal eine ganz neue Richtung eingeschlagen hat
und mit Hip-Hoppern der Gruppe „Microphone Mafia“ aus Köln
die Bühnen erobert, um vor allem junge Menschen zu erreichen. Gerade
ist – nach „Per la vita“, für das Leben –
ihre zweite gemeinsame Rap-CD erschienen, „La vita continua“,
das Leben geht weiter, mit Liedern gegen Krieg und Faschismus, für
Frieden, Menschlichkeit und Miteinander.
Das Leben geht weiter, auch da, wo ein Mensch Erlebtes zu vergessen nicht
in der Lage ist, und wenn Esther Bejarano heute von damals spricht, dann
tut sie das deshalb, „damit immer präsent bleibt, was geschehen
ist“. Sie selbst lassen ihre Erinnerungen nie mehr los, „bis
zu meinem letzten Moment nicht, die gehen einfach nicht weg, sie sind
ständig im Hirn“. Dann rollt sie den linken Ärmel ihres
Pullovers hoch, auf der Innenseite des Unterarms kommt ein heller Fleck
mit ein paar dunklen Rändern zum Vorschein. In Auschwitz war ihr
der Name genommen und die Häftlingsnummer 41948 eintätowiert
worden. Vor vielen Jahren entschloss Bejarano sich, die Nummer entfernen
zu lassen. „Heute bereue ich das“, sagt sie, „ich muss
mich ja nicht schämen für das, was mit mir geschah. Aber da
man die Umrisse noch immer etwas sieht, weil die Nummer schlecht raustätowiert
wurde, ist es in Ordnung so.“ Niemand kann vergessen, was einfach
nicht vergessen werden darf.
Häftling Nr. 41948: Bejarano wuchs in einer „assimilierten
jüdischen Familie“ im Saarland auf, ihr Vater war Oberkantor
der jüdischen Gemeinde in Saarbrücken, später in Ulm, und
arbeitete auch an der Oper. Von ihm hat das Mädchen Esther die Leidenschaft
für Musik vermittelt bekommen, bereits als kleines Kind lernt sie
Klavier spielen. 16 ist sie, als die Nazis das jüdische Mädchen
1941 in das Zwangsarbeitslager Neuendorf bei Fürstenwalde/Spree stecken.
Dass dies ein Abschied für immer von der Familie sein wird, erfährt
sie erst viel später – Eltern, Schwester und Schwager werden
von den Nazis ermordet.
In Fürstenwalde muss die junge Esther zunächst zwei Jahre lang
in einer Gärtnerei arbeiten, bevor sie im April 1943 zusammen mit
anderen in Viehwaggons ins Arbeitslager nach Auschwitz deportiert wird.
Dort wird ihr die Häftlingsnummer eingestochen, Bejarano muss anschließend
Steine schleppen, von einer Stelle zur anderen, am nächsten Tag den
gleichen sinnlosen Weg zurück. „Vernichtung durch Arbeit“,
nennt Bejarano das heute, sie hat damals viele Menschen erlebt, die völlig
erschöpft starben oder weil sie sich vor lauter Verzweiflung in die
elektrischen Sperrzäune warfen. Und Tag und Nacht roch es nach verbrannten
Knochen, wenn die in den Gaskammern ermordeten Menschen in großen
Öfen verbrannt wurden.
Als vier Wochen nach ihrer Ankunft im KZ die SS den Befehl zum Aufbau
eines Lagerorchesters gibt und dafür nach musikalischen Mädchen
sucht, meldet sich auch Esther. Sie kann zwar Klavier spielen, doch ein
solches Instrument gibt es in dem Lager nicht. „Aber wenn du Akkordeon
spielen kannst, dann prüfen wir das“, wird ihr gesagt.
Noch nie hatte sie ein solches Instrument in den Händen gehalten;
jetzt lügt sie einfach, zu groß ist die Hoffnung, als Mitglied
des Mädchenorchesters ihr Leben doch noch retten zu können;
körperlich ist die zierliche junge Frau längst am Ende. Sie
erhält den Auftrag, den Schlager „Du hast Glück bei den
Frau'n, bel Ami“ vorzuspielen. Die Melodie kennt sie, die rechten
Tasten auf dem Akkordeon vom Klavier her ebenfalls. Nach etwas Üben
kommt sie auch mit den Akkordknöpfen auf der linken Seite zurecht
und wird in das Mädchenorchester aufgenommen.
Immer am KZ-Tor mussten sie dann stehen, mussten vor allem Heiteres und
Rhythmisches spielen, wenn neue Transporte ankamen, voll mit Menschen
auf dem Weg in die Gaskammern. „Das war das Schlimmste“, sagt
Esther Bejarano heute, „wir wussten, wohin sie fuhren. Sie winkten
uns zu und dachten sicher, wo die Musik spielt, da kann es ja nicht so
schlimm sein. Wir spielten mit Tränen in den Augen und konnten uns
nicht wehren, denn hinter uns standen die SS-Schergen mit ihren Gewehren.“
So spielt sie täglich um ihr Überleben und wird schließlich
kurz vor Kriegsende ins KZ Ravensbrück verbracht. Dort gelingt ihr
1945 bei einem Todesmarsch die Flucht. Ein paar Monate später wandert
sie nach Israel aus, lernt ihren Mann kennen, wird zur Koloratursopranistin
ausgebildet und bekommt zwei Kinder. 1960 entschließt sich die Familie
Bejarano, Israel wegen des heißen Klimas und der andauernden Kriege
wieder zu verlassen. Trotz der schlimmen Erfahrungen und Erinnerungen
gehen sie zurück nach Deutschland, „aber ich wollte in keine
Stadt, in der ich schon mit meinen Eltern gelebt habe“.
Draußen schüttet es mal wieder, jetzt, wo man in ihrer Wohnung
sitzt, einige Tage lang geht das schon so in diesem Hamburger Frühsommer.
Und Esther Bejarano sagt nun: „Ja, unser norddeutsches Wetter.“
Hat sie über die Jahre in der Hansestadt, im Norden Deutschlands
doch noch so etwas wie Heimatgefühle entwickeln können? Einen
Moment lang überlegt Bejarano. „Heimat?“, fragt sie dann,
„sicher, ich lebe in Deutschland und es geht mir gut in meinen Kreisen,
da bin ich zu Hause. Aber Heimat kann ich nicht sagen.“
Zu Hause ist dort, wo man sich wohlfühlt. Für Bejarano war es
ein schwerer Weg, Vertrauen zu finden zu ihrer neuen Umgebung. Zunächst
lebt sie unpolitisch, betreibt eine kleine Boutique. „Wenn ich Menschen
auf der Straße begegnete“, erzählt sie, „habe ich
immer gedacht: Oh Gott, was hat der wohl im Krieg gemacht?“ Erst
nachdem sie über die Jahre Menschen kennen lernte, die im Widerstand
gekämpft hatten, „wusste ich, ja, es gab auch einige andere“.
Als im Jahr 1979 die NPD vor ihrer Boutique einen Stand aufbaut, greift
sie erstmals aktiv ein. „Ich habe einen der anwesenden Polizisten
am Revers gepackt und ihn gefragt: Wissen Sie eigentlich, wen Sie da schützen?“
Sie solle rasch wieder in ihren Laden gehen, sonst werde sie verhaftet,
erhält sie zur Antwort. Das sei ihr egal, gibt sie zurück, in
Auschwitz habe sie viel Schlimmeres erlebt. Einer der Nazis fordert daraufhin,
sie zu verhaften, alle in Auschwitz seien Verbrecher gewesen. „Seitdem“,
sagt Esther Bejarano, „bin ich unterwegs“.
Unermüdlich tritt sie seit damals auf, singend und schreibend, aus
eigenen und anderen Büchern lesend oder einfach nur ihre Erinnerungen
erzählend. Mit Tochter Edna – Anfang der 1970-er Jahre Sängerin
der Rockgruppe „The Rattles“ – war Bejarano bis vor
ein paar Jahren in der Musikgruppe „Coincidence“ unterwegs,
in der Gruppe „Siebenschön“ hat sie Akkordeon gespielt.
Regelmäßig geht sie an Schulen, um vor Rechtsradikalen zu warnen.
Bejarano nennt es eine „Katastrophe“, dass Neonazis bis auf
den Tag aus ihrer Sicht weitgehend ungehindert in der Öffentlichkeit
wirken können. Manchmal, wenn wieder ein Auftritt an einer Schule
bevorsteht, treffen Nazi-Briefe ein mit der Forderung, das Auschwitz-Opfer
Bejarano auszuladen, „sonst kämen sie selbst und würden
über das Dritte Reich aufklären“. Dass die Regierung so
wenig gegen das öffentliche Wirken neonazistischer Gruppen unternehme,
auch die NPD immer noch nicht verboten sei, könne sie nicht verstehen.
„Die Regierung sagt, wir leben in einer Demokratie“, so die
Mitbegründerin und Vorsitzende des Auschwitzkomitees und Ehrenvorsitzende
der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), „aber Faschismus
ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.“
Schon 1994, zu ihrem 70. Geburtstag, wurde die Sängerin Esther Bejarano
vom Hamburger Senat für ihre künstlerischen Verdienste um die
Hansestadt mit der Biermann-Ratjen-Medaille geehrt. Im vergangenen Jahr
erhielt sie das Große Bundesverdienstkreuz, zuvor 2008 war sie bereits
mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse ausgezeichnet worden. Wichtiger
noch sind ihr Ehrungen wie die Carl-von-Ossietzky-Medaille oder der Clara-Zetkin-Frauenpreis
für ihr Lebenswerk, „Personen, die ich sehr geschätzt
habe, Zetkin hat auch gegen den Faschismus gekämpft.“
Jetzt also der neue Abschnitt in ihrem Leben, die Arbeit mit den Kölner
Migrantenkindern und Hip-Hoppern von „Microphone Mafia“. Für
die Jüdin Esther Bejarano ist es eine „einmalige Konstellation“,
wenn sie mit ihrem Bass spielenden Sohn Joram sowie dem türkischen
Moslem Kutlu Yurtseven und dem italienischen Christen Rossi Pennino von
der Hip-Hop-Mafia auf der Bühne steht. „Drei Generationen aus
drei Religionen“, sagt sie, „die Jungs von der Mafia haben
ihre eigenen Erfahrungen mit Diskriminierung, das schweißt uns zusammen.“
Fast die Hälfte eines Jahres steht Esther Bejarano weiterhin irgendwo
auf einer Bühne, singend, erzählend, dabei immer mahnend und
als Botschafterin für den Frieden. Sie will jungen Menschen Zivilcourage
vermitteln und weiß, dass dies die Bereitschaft der Alten wie sie
erfordert, von eigenen Erlebnissen zu berichten.
„Ach Gott“, ruft sie jetzt in ihrem großen Sessel, „natürlich
kostet das viel Kraft, aber das Publikum gibt mir auch Stärke zurück.“
Sich schwach zu fühlen, dafür besteht überhaupt kein Anlass.
Erschienen in:
HEMPELS Straßenmagazin im Juli 2013
Publik-Forum im Oktober 2013
|