Straßenkinder in Deutschland
16 ist Robin erst, doch hier auf dem Vorplatz gehört er bereits zu den Erfahrenen. Kurz nach Zwei ist es an diesem Mittag, gerade war er zusammen mit zwei weiteren Jugendlichen aus einem U-Bahnschacht nach oben gestiegen, nun dreht er da draußen eine Runde.

Als kleinem Jungen hatte ihm der Vater das erste Mal diesen Ort gezeigt, seit ein paar Jahren kommt er fast täglich. „Ist meine zweite Heimat geworden“, erzählt Robin, eine Hochhaussiedlung knapp zwanzig Bahnminuten Richtung östlicher Vorstadt ist die erste. Sein arbeitsloser Vater wohnt weiterhin dort und meist auch seine Mutter. „Na ja“, sagt Robin, „im Moment nur er“, die alkoholkranke Mutter ist auf Entzug in einem Krankenhaus, „der x-te in zwölf Jahren“. Manchmal, so wie vergangene Nacht, nimmt er dann ein paar Freunde mit zurück in die Vorstadt, damit die sich bei ihm ausruhen können.

Zwischen vierspuriger Hauptverkehrsstraße und Bahnhofsmission läuft Robin weiter seine Begrüßungsrunde. Jan und Sarah, 19 und 15 und wie alle Jugendlichen in dieser Geschichte mit veränderten Vornamen, hocken auch schon auf einer Pappe mitten auf dem Platz, vor sich einen leeren Becher, um vorbeihastenden Passanten ein paar Euro abzuschnorren. Vor ein paar Tagen hat sich die 16-jährige Julia ihrer Gruppe angeschlossen. Zu Hause in Dortmund „hatte ich Stress mit Eltern und Schule“. Und jetzt, was ist anders? „Hier gibts hundertprozentige Freundschaft“, antwortet das Mädchen, „vorher waren es höchstens fünf Prozent“.

Straßenkinder am Hamburger Hauptbahnhof: Manchmal sind sie ohne großes Ziel hierher gekommen, immer aber mit viel Hoffnung und auf der Suche nach Anerkennung, Aufmerksamkeit und ein wenig emotionaler Wärme. Bahnhöfe wie der in Hamburg bieten Faszination und Abenteuer zugleich für diese jungen Menschen, die zuvor durch alle Raster gefallen sind.

Eine im Frühsommer veröffentlichte und von der Vodafone-Stiftung finanzierte Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) schätzt die Anzahl der sogenannten „entkoppelten Jugendlichen“ in Deutschland auf 21.000. Oft stammen sie aus stark belasteten Familien, „in denen sie emotionale Vernachlässigung, Verwahrlosung und Gewalt erlebt haben“. Viele wachsen in der Obhut der Jugendhilfe auf. Eines der Probleme: Wenn sie volljährig werden, endet diese Hilfe oft abrupt, weil Städten und Kommunen das für eine Weiterführung nötige Geld fehlt.

Mitinitiiert worden war die DJI-Studie von der Stiftung Off Road Kids, die der ehemalige Journalist Markus Seidel vor gut zwanzig Jahren im schwäbischen Bad Dürrheim gegründet hat. Inzwischen betreibt Off Road neben zwei Kinderheimen auch eigene Streetwork-Stationen in Berlin, Dortmund, Hamburg und Köln, wo sich jeweils vor allem um die über 18-Jährigen gekümmert wird. Seidel sieht mit den Forschungsergebnissen seine Forderung bestätigt, Städten und Kommunen mehr Geld zur Verfügung zu stellen, um auch diese älteren Straßenkinder weiter im Hilfesystem belassen zu können.

Oft fehle es denen noch an persönlicher Reife, um bereits eigenverantwortlich leben zu können. Die Folge: Viele rutschen weiter ab, geraten in finanzielle Schwierigkeiten und landen dauerhaft im Sozialleistungssystem. Etwa 8500 der 21.000 Entkoppelten steuern laut Studie auf ein tatsächliches Leben ohne Dach über dem Kopf zu. Ihnen allen könne rechtzeitig geholfen werden, so Seidel, wenn das „eigentlich sehr gute“ Kinder- und Jugendhilfegesetz konsequent angewendet werde. Seidel: „Schon jetzt heißt es im Gesetz, dass auch 18- bis 27-Jährigen geholfen werden soll. Aus der Formulierung 'soll' muss aber zwingend ein 'muss' werden, damit Jugendämter vollstationäre Unterbringungen ab dem 18. Lebensjahr nicht mehr mit Verweis auf die Kosten beenden können.“

Benthe Müller hat ihr Büro in einer Seitenstraße des Bahnhofsviertels St. Georg. Vor zehn Jahren bei der Eröffnung der Hamburger Off-Road-Kids-Station war die Diplom-Sozialpädagogin bereits dabei, heute ist sie deren Leiterin. Und wenn man nun an ihrem Schreibtisch sitzt, spricht sie viel über Wünsche und Träume der Jugendlichen, über Zwänge und Ausschlüsse. „Es sollte um Inklusion gehen“, sagt Müller irgendwann, „tatsächlich werden viele aber exkludiert.“

Müller beobachtet bei ihrer Arbeit, „dass der größte Teil dieser jungen Menschen was bewegen will, dass sie aber immer wieder an den Rahmenbedingungen scheitern.“ Viele besäßen den Wunsch, einen Schulabschluss nachzumachen und eine Wohnung zu finden. Häufig aber seien für ihre Klientel die Anträge auf den Ämtern zu kompliziert, wichtig sei ämterübergreifende „Hilfe aus einem Guss“. Die Gründung der Tür an Tür mit Jugendhilfe arbeitenden Jugendberufsagenturen 2012 in den Hamburger Bezirken lobt Off-Roads-Gründer Seidel als „vorbildliche Vernetzung“ und „beispielhaft“ für andere Bundesländer. Stationsleiterin Müller: „Wir machen gute Erfahrungen mit den Jungerwachsenen, die im Hilfesystem geblieben sind. Man sieht, dass sie eine Menge schaffen, wenn ihnen geholfen wird.“

„Es ist klar, dass der Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter neu überarbeitet werden muss“, sagt Norbert Hocke, bei der GEW Vorstand für Jugendhilfe und Sozialarbeit. Hocke fordert im SGB VIII die Verankerung eines „Rechtsanspruchs auf Übergang in die Volljährigkeit, um es salopp zu formulieren.“ Zugleich weist er auf die Große Koalition hin und auf deren 2013 im Koalitionsvertrag gegebenes Versprechen, die Kinder- und Jugendhilfe „zu einem inklusiven, effizienten und dauerhaft tragfähigen und belastbaren Hilfesystem“ weiterzuentwickeln. Davon könne bislang noch keine Rede sein. Dass sich mit rechtzeitiger Hilfe viel Geld sparen lässt, macht die DJI-Studie deutlich. Jeder in der Jugendhilfe ausgegebene Euro führe im weiteren Verlauf des Lebens eines Betroffenen zur Einsparung des Dreifachen an staatlichen Mitteln, etwa bei Sozialleistungen.

Auf dem Bahnhofsvorplatz zeigt ein junges Mädchen ihre Unterarme. Ein paar Narben sind zu erkennen, und wenn man sie fragt, warum die vielleicht 16-Jährige fragt, warum sie sich das antue, erzählt sie in hastigen Halbsätzen von zu Hause und von der Schule. Die allein erziehende Mutter – immer nur Stress, die Lehrer – einfach alle blöd, die anderen Jugendlichen in ihrem Viertel – jeden Tag das scheiß Mobbing. „Ritzen ist wie eine Sucht“, sagt das Mädchen, „neun von zehn, die ich hier kenne, machen das.“ Auch wenn es ein paar weniger sein sollten, am Bahnhof begegnet man vielen jungen Menschen, die Schmerz loswerden wollen, indem sie sich einen anderen zufügen.

Wenn Burkhard Czarnitzki gleich um die Ecke vom Bahnhof auf dem Balkon seines Büros im sechsten Stock mal schnell eine Selbstgedrehte durch die Lungenflügel pumpt, sieht er in der Ferne die Hochhaussilhouetten einiger Trabantenvorstädte. Czarnitzki ist Leiter der Abteilung Jugendsozialarbeit bei basis & woge, einem staatlich anerkannten großen Träger sozialer Dienstleitungen in Hamburg, der seit zwanzig Jahren die Einrichtung KIDS als Anlaufstelle für Straßenkinder betreibt und – anders als Off Road – Minderjährige im Blick hat. Viele stammen aus Vierteln wie jene, auf die Czarnitzki von seinem Balkon aus blickt, andere oft aus dem Hamburger Speckgürtel.

600 Jugendliche, mehr Mädchen als Jungen, hat KIDS im vergangenen Jahr betreut, die zweithöchste Ziffer seit Bestehen. Nicht nur die absoluten Zahlen steigen, sagt Czarnitzki, auch Belastungsfaktoren wie Armutsauswirkungen und psychische Probleme müsse man immer häufiger feststellen. Im Sommer 2014 hat man im KIDS begonnen, psychische Belastungen statistisch zu erfassen. Erste Interpretationen ließen „den Schluss zu, dass es einen sehr hohen Unterstützungsbedarf“ gebe. Jugendhilfe müsse umsteuern und „rechtzeitig anfangen, Karrieren zu verhindern“. Czarnitzki legt besondere Betonung auf „rechtzeitig“.

Ein paar Tage nach dem ersten Besuch am Bahnhof, auch an diesem Nachmittag hockt Robin mit seiner Gruppe wieder vor dem Eingang. Dicht bei ihm das aus Dortmund abgehauene Mädchen, seit einigen Abenden fährt es mit ihm immer zurück in die Vorstadt, um sich dort nachts ein paar Stunden vom Bahnhof zu erholen. „Gestern“, sagt Robin, „haben wir auch unter einer Decke geschlafen.“ Das Mädchen lächelt, sagt jetzt aber nichts.

Peter Brandhorst

Erschienen in:
Erziehung & Wissenschaft, Zeitschrift der GEW; Oktober 2015
Straßenmagazin HEMPELS; November 2015