Leben nach Entlassung aus lebenslänglicher Haft

Als es endlich soweit ist, spürt Thorben Fock (Name geändert) vor allem Zweifel und Ängste. 15 Jahre und 23 Tage hat er gewartet auf diesen Tag. Und nun: plötzlich kein Gefühl der Freude da. „Vielleicht kommt sie ja noch“, sagt er.
Es ist ein Montagnachmittag, kurz vor vier. Fock tritt aus dem offenen Vollzug der JVA Neumünster, wo er auf seinen Alltag in Freiheit vorbereitet wurde. Tür zu, auf ins Leben. Auf dem Parkplatz hat er einen alten Fiat stehen, Teil einer vom Jobcenter finanzierten Integrationsmaßnahme, um bereits als Freigänger in einem Logistikbetrieb außerhalb der Stadt arbeiten zu können. Den Job hat er verloren, das Auto durfte er behalten.
Auf der Rückbank verstaut Fock ein kleines Fernsehgerät und eine Tasche mit Wäsche; all den anderen in 15 Jahren Knast angesammelten Besitz hat er schon zwei Tage vorher in die Wohnung seiner Freundin gebracht. Fock fährt vorsichtig, bloß keinen Fehler machen. Schließlich einparken vor einem Mietblock. In einer Drei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss lebt seine Freundin, hier ist jetzt auch sein Zuhause.
Schnell die Sachen abstellen, dann steuert Fock die Innenstadt an, einen Parkplatz hinter dem Schnellrestaurant, in dem seine Freundin als stellvertretende Leiterin arbeitet, „Schichtende heute erst um 22 Uhr“, sagt er. Drinnen hantiert die Freundin mit Geschirr, ein schnelles Hallo, mehr Zeit zur Begrüßung bleibt nicht. Das also ist der Alltag draußen. Angekommen?
Beim nächsten Treffen ein paar Monate später kann Fock ein bisschen mehr darüber erzählen, wie sich das Leben in Freiheit anfühlt: „Sagen wir so: Privat läuft es super; alles andere muss man sehen.“
Thorben Fock, 46, hat Anfang 2001 seine Lebensgefährtin ermordet, eine „im Affekt begangene Tötung“, wie er selbst sagt. Er hat ihr bei einem Streit mit mehreren Messerstichen das Leben genommen und den beiden gemeinsamen kleinen Kindern die Mutter – und letztlich auch den Vater. Das Gericht urteilte: Mord, lebenslange Haft, Entlassung frühestens nach 15 Jahren möglich. Doch auch mit der Höchststrafe haben Gefangene in Deutschland das Recht auf Resozialisierung. Im Strafvollzugsgesetz formuliertes Ziel ist, sie während der Haft zu einem späteren straffreien Leben zu befähigen.
Focks langer Weg zurück in ein freies Leben hat spätestens im Sommer 2011 begonnen. Damals sitzt er im geschlossenen Langzeitvollzug der JVA Lübeck ein – und bekommt das erste Mal nach gut zehn Jahren Haft für ein paar Stunden Ausgang. „Der Beginn meiner Auswilderung“, sagt er heute. Weil er sich bis dahin unauffällig verhalten hat, kommt er in den Genuss von Lockerungen und darf ohne Begleitung von Beamten durch die Stadt laufen. Fock soll Witterung aufnehmen zum Leben draußen, soll wieder an eigenverantwortliches Handeln herangeführt werden.
Für Fock ist der erste Ausgang „einer meiner größten Schritte während der gesamten Haft“. Plötzlich ist er für ein paar Stunden allein auf seine Entscheidungen angewiesen; nach zehn Jahren Knast ein befremdliches Gefühl. Alle paar Meter dreht er sich um, „ich dachte immer, ich hätte eine rote Ampel übersehen oder die Leute sehen mir den Knacki an“, sagt er.
Für Fock gilt, was auf die meisten Gefangenen zutrifft: Ausgang aus dem Knast bedeutet Druck. So sehr Fock sich darauf gefreut hat, einen Nachmittag durch die Stadt zu laufen, so sehr erleichtert es ihn, zurückkehren zu können hinter die Gefängnismauern. Noch vor der gesetzten Uhrzeit steht er an der Pforte, auch bei späteren Ausgängen und Urlauben „war der Knast immer eine Art Sicherheit für mich, mein Rückzugsort. Ich hatte Angst, ob ich es draußen auf die Reihe kriege“.
Fock, kräftige Statur, raspelkurz geschorenes Haar, hatte sich als junger Mann für 15 Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet, hatte sich hochgearbeitet und als Oberfeldwebel Führungsaufgaben wahrgenommen. Knapp elf Jahre war er Soldat, bevor er seine Freundin erstach. „Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht daran denke“, sagt er, „wir hatten uns oft gestritten, alles hat sich aufgeschaukelt.“ Hat er keine Angst davor, er könnte ein zweites Mal töten? „Ich achte jetzt auf meine Gefühle und auf die Warnsignale der Psyche“, antwortet Fock, „im Knast habe ich gelernt, dass nur ich selbst mich ändern kann.“ Fock ist überzeugt, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgeht.
September 2011: Ein Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass nach zehn Jahren Therapie keine Wiederholungsgefahr besteht; Schritt für Schritt werden weitere Lockerungen gewährt, Fock wird auf seinen Wunsch aus Lübeck in die JVA Neumünster verlegt. Er ist in der Nähe aufgewachsen und hofft, dort nach seiner Entlassung leichter Freunde zu finden. Das klappt sogar schon im Knast, er kommt wieder in Kontakt zu seiner ersten Jugendliebe, die beiden werden ein Paar. Fock beginnt eine Ausbildung zum Elektroniker für Energie- und Gebäudetechnik. Seinen Abschluss macht er im Januar 2014, ein Jahr früher als geplant, mit 1,0 und einer Auszeichnung durch die IHK. Er hofft auf einen schnellen Übergang in den offenen Vollzug. Dort dürfte er Handy und Internet nutzen, könnte sich draußen einen Job suchen und bekäme zusätzliche Tage in Freiheit, plus 21 Tage Jahresurlaub. Doch Fock wird enttäuscht.
Im Februar 2014 trennt sich seine Freundin von ihm, „acht Stunden wöchentlicher Ausgang im geschlossenen Vollzug sind für eine Beziehung viel zu wenig“, sagt Fock. Aus Sorge, die Trennung könnte ihn in eine Krise stürzen, werden die Lockerungen gestrichen, die Verlegung in den offenen Vollzug fällt aus. Erst muss ein weiteres Gutachten erstellt werden. Als das positiv ausfällt, folgt im September endlich der Übergang in den offenen Vollzug.
Am ersten Tag meldet er sich bei einem Datingportal an und schreibt: „Freigänger aus dem Knast fühlt sich einsam und sucht nette Freundin.“ Vier Tage später erhält er eine Antwort: „Du bist ja ehrlich.“
Man tauscht Telefonnummern aus, dann die Frage, die an Menschen wie Thorben Fock immer gestellt werden wird: Was hast du getan? Fock schlägt der Frau vor, ihr das bei einer Tasse Kaffee zu erklären. Einige Tage später trifft man sich, er ein Mörder, sie die Chefin einer Restaurantfiliale, ähnlich alt wie er. „Klar war ich geschockt, als er mir alles erzählt hat“, sagt die Freundin heute. Damals hat sie ihn um ein paar Tage zum Nachdenken gebeten.
„Was mir imponiert hat“, sagt sie, „war seine ehrliche Art.“ Bald nach dem ersten Treffen lädt sie ihn zu sich zum Essen ein. Danach sehen sie sich regelmäßig, jedesmal stellt sie Fragen. „Das war anstrengend für mich“, sagt Fock, „natürlich hatte ich Angst, dass sie nicht klarkommen würde mit dem, was ich antworte. Aber ich bin ihr nie ausgewichen.“ Er streicht ihr über die Hand, sie sagt: „Das Grundvertrauen zu ihm ist gewachsen. In seinem früheren Leben ist er weggelaufen vor Problemen, heute macht er das nicht mehr.“
Fock fasst langsam Vertrauen in das Leben da draußen. Im Mai 2015 findet er aus dem offenen Vollzug heraus Arbeit als Packer, 8,50 Euro Mindestlohn die Stunde.
Nach ein paar Wochen werden ihm Schichtleiteraufgaben übertragen, es läuft für Fock. Die Ernüchterung folgt nach einem halben Jahr; am letzten Tag der Probezeit wird ihm gekündigt, als die Finanzierung seiner beruflichen Eingliederungsmaßnahme durch das Jobcenter ausläuft.
Doch Fock geht weiter seinen Weg. In der JVA wird abermals ein Gutachten über ihn erstellt, der baldigen Entlassung steht nichts mehr im Weg. Bereits kurz vorher, Ende 2015, beginnt er eine Umschulung zum Speditionssachbearbeiter, wird zum Kurssprecher gewählt, „das Vertrauen hat mich gefreut“, sagt er. Kurz danach erzählt er im Kurs von seiner Vergangenheit, „erst Schweigen, anschließend sind alle weiter freundlich mit mir umgegangen“. Als Kursbester beendet er die Umschulung mit einer Erfolgsquote von 99,1 Prozent. Mittlerweile ist er in Freiheit, unter Auflagen: Er wird von einem Bewährungshelfer betreut und muss immer noch zur Therapie.
Fock sucht weiter nach seiner zweiten Chance im Leben und kommt doch beruflich kaum voran. Mehr als 100 Initiativbewerbungen hat er verschickt. Zurückgekommen sind fast nur Absagen. Irgendwann hatte er doch mal ein Vorstellungsgespräch, bei einer Zeitarbeitsfirma. Als er seine Zeugnisse vorlegte, wurde er gefragt, ob er sich die „selbst gemalt“ habe. Einen Job bekam er nicht. Die meisten Arbeitgeber würden grundsätzlich keine Vorbestraften einstellen.
„Ich könnte aufgeben“, sagt Thorben Fock, „doch das kommt nicht infrage.“ Er will weiter suchen, nach seiner Chance im Leben nach dem Knast. Zweifel und Ängste begleiten ihn mehr noch als am ersten Tag. Aber versteht er, dass Menschen auch ihm, dem Mörder, gegenüber Ängste und Zweifel haben? Fock schweigt, überlegt, dann antwortet er: „Vielleicht hätte ich selbst früher auch so gedacht.“

Peter Brandhorst

Erschienen in:
Süddeutsche Zeitung; 14. März 2017