Obdachlosigkeit im Winter

Die vergangene Nacht war halbwegs in Ordnung, sagt Karsten. In einer Kieler Tages-Aufenthaltsstätte für Wohnungslose sitzt er jetzt, neben dem Stuhl hat er seinen Rucksack abgelegt und in einem Schließfach zwei Schlafsäcke und eine Isomatte verstaut. „Einer der Schlafsäcke schützt bis minus zwanzig Grad“, sagt Karsten, „aber heute Nacht waren es ja bloß um die Null.“

Seit 15 Jahren lebt der inzwischen 44-Jährige auf der Straße. „Platte machen“ nennen Menschen wie er ihre Lebensumstände. Jede Nacht draußen schlafen, im Sommer auch in einem Park unter freiem Himmel, jetzt im Winter wenigstens vor Regen oder Schnee geschützt in Ladeneingängen oder unter irgendwelchen anderen Vordächern. „Man passt auf, dass der kalte Wind nicht so sehr über einen hinwegpfeift“, sagt Karsten, „dann hat man schon viel gewonnen.“

In der DDR ist er aufgewachsen, nach der Grenzöffnung war er in den Westen gespült worden. Als Metallbauer hatte er zunächst sein Auskommen gefunden, bis die Mutter starb. „Das hat mich aus der Bahn geworfen“, erzählt Karsten. „Abgesackt“ sei er danach, Alkohol wurde zu seiner täglichen Stütze. Erst verlor er den Job, später dann die Wohnung. Und jetzt, im 15. Winter auf der Straße? „Man darf sich draußen nie aufgeben“, sagt Karsten, „man muss das Leben so leben, wie es nun mal ist.“

Etwa 335.000 wohnungslose Menschen gibt es laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) in Deutschland, für das kommende Jahr wird ein starker Anstieg um weitere 200.000 prognostiziert. In Schleswig-Holstein sind laut Diakonischem Werk (DW) mittlerweile 10.000 Menschen wohnungslos oder von Wohnungslosigkeit bedroht.

Die meisten finden vorübergehend bei Freunden oder in öffentlichen Unterkünften ein Dach über dem Kopf, offiziell 150 schlafen wie Karsten in Schleswig-Holstein auch im kältesten Winter draußen. „Die Dunkelziffer dürfte aber viel größer sein“, so Ilona Storm, Landesreferentin für Wohnungslosenhilfe beim DW, „die Notunterkünfte geraten überall aus den Fugen.“ Für alle gilt: Wer auf Platte lebt, riskiert Gesundheit und Leben.

Fast 300 Obdachlose sind laut BAG W in den vergangenen 25 Jahren in Deutschland auf der Straße erfroren, drei in Schleswig-Holstein; zuletzt 2012 in Flensburg und Ende 2014 in Norderstedt. 17 weitere Obdachlose starben auf Deutschlands Straßen allein im vergangenen Jahr durch fremde Gewalteinwirkung, in acht Fällen ausgeübt von Tätern, die selbst nicht obdachlos waren. Und immer führt vor allem das winterliche Leben draußen zu einem desolaten Gesundheitszustand. Eine rechtsmedizinische Untersuchung vor drei Jahren in Hamburg ergab, dass über längere Zeit obdachlose Menschen nur eine geringe Lebenserwartung haben; sie werden durchschnittlich keine 47 Jahre alt.

„Wenn es wehtut, dann gehe ich zum Arzt“, sagt in Kiel der Obdachlose Karsten, regelmäßig kümmert sich im Tagesaufenthalt ein Mediziner um die körperlichen Leiden Obdachloser. „Toi, toi, toi“, ruft Karsten und klopft auf die Tischplatte, „aber eine richtige Erkältung kenne ich eigentlich nicht.“ Für seine Platte in der Innenstadt hat er sich einen Ort ausgesucht, der vor Nässe schützt und vor zu vielen neugierigen Blicken. Wichtig ist ihm aber auch noch ein weiterer Schutz: „Der Wirt eines lange geöffneten Imbiss' schräg gegenüber kennt mich und achtet immer darauf, dass mir nachts nichts passiert.“

Kaum etwas ist auf Platte so wichtig wie einerseits anderen Menschen in der Umgebung vertrauen zu können und andererseits bei ihnen zugleich Verständnis zu schaffen für die eigene Situation. „Wenn ich mal nicht auftauche, dann suchen sie bestimmt nach mir“, hofft Karsten. Das gilt auch für eine der Kneipen in der Nähe seines Schlafplatzes, in der er sich abends aufhält und die ihm so etwas wie ein geschützter Raum ist.

„Ein paar Bier in Maßen, das heizt innerlich“, sagt er, dann geht er raus zu seiner Ecke in die ungeschützte Kälte, breitet die Isodecke aus, legt einen Schlafsack darauf und deckt sich angezogen mit dem anderen zu. „Reinkriechen darf man nicht“, sagt Karsten, „sollte mal ein Fremder Stress machen, dann kommt man nämlich so schnell nicht mehr raus.“ Er selbst hat diesen Stress noch nicht erlebt, „ich habe das aber schon von anderen gehört; einem wurde mal sein Zelt abgefackelt.“ Wenn es halbwegs gutläuft so wie in der Nacht zuvor, dann findet er zwischen seinen zwei Schlafsäcken fünf oder sechs Stunden Schlaf. In der Aufenthaltsstätte, die er jeden Tag ansteuert, erholt er sich später noch ein, zwei weitere Stunden auf einem Sofa.

Seit 15 Jahren jede Nacht auf der Straße, warum nicht wenigstens im kalten Winter ein Bett in einer öffentlichen Unterkunft? Jeder Obdachlose hat dort, wo er sich fest aufhält, einen Anspruch darauf, auch Karsten in Kiel. „Hab ich versucht“, antwortet der, „aber ich kann das nicht.“ Abends um zehn müsste er im Zimmer sein, Alkohol dürfte er dort nicht trinken „und in einem Mehrbettzimmer kann ich auch nicht schlafen; mal abgesehen davon, dass man von anderen Bewohnern öfter beklaut wird“. So sehr er tagsüber auch den Kontakt zu anderen Menschen sucht, nachts braucht er seine Platte nur für sich.

„Die vorhandenen Angebote werden von einigen aus unterschiedlichen Gründen nicht angenommen“, sagt Karin Helmer, Geschäftsführerin von stadt.mission.mensch in Kiel, „hinter jedem Obdachlosen verbirgt sich ein individuelles Schicksal.“ Einige haben psychische Probleme, andere kämpfen mit Suchtproblemen oder sind wegen Schulden wohnungslos geworden. Insgesamt habe man es mit einer sich verändernden Situation zu tun, „Platte machen nicht mehr nur die klassischen Obdachlosen von früher, Männer mit langen Bärten“.

Diesen Winter hat stadt.mission.mensch wegen des gestiegenen Bedarfs zum zweiten Mal drei Container statt früher nur einen aufgestellt, die nachts jeweils bis zu fünf Obdachlosen als Erfrierungsschutz dienen. Das Bodelschwinghaus ist zudem mit 66 Wohnungslosen belegt, meist Männern, weitere gut 140 Wohnungslose sind derzeit in Hotels untergebracht.

„Für diese Menschen fehlt bezahlbarer Wohnraum“, so Geschäftsführerin Helmer, „es fehlen aber auch zunehmend Notunterkünfte.“ Wichtig sei zudem, über neue Formen der Notunterbringung nachzudenken. Steigenden Bedarf und ständige Überbelegung meldet auch die Vorwerker Diakonie in Lübeck. Gemeinsam mit der Stadt soll eine zusätzliche Einrichtung geschaffen werden, die aber erst im kommenden Winter Entlastung bringe, so Vorwerker-Geschäftsführer Hans-Uwe Rehse.

Doch längst ist Obdachlosigkeit, das Leben auch im Winter auf der Straße kein Problem mehr allein in den größeren Städten. „Menschen, die in irgendeiner Weise durch das System gefallen sind, gibt es inzwischen überall, und es werden noch mehr werden“, so Ilona Storm vom Diakonischen Werk, das in Schleswig-Holstein 34 Anlaufstellen der Wohnungslosenhilfe zählt.

In Dithmarschen und Nordfriesland habe man es zunehmend mit sogenannten Inselflüchtlingen zu tun – mit Menschen, die sich das teure Leben beispielsweise auf Sylt nicht mehr leisten können, auf dem Festland aber ebenfalls ohne Wohnung bleiben. Auch Storm fordert überall mehr bezahlbaren Wohnraum und eine Ausweitung der Notunterkünfte. „In manchen Orten findet man im Moment keinen Platz mehr“, sagt sie, „viele wandern von einem Ort zum nächsten.“ Das betreffe nicht nur Menschen aus anderen Ländern, die keinen Anspruch auf Hilfe haben.

In Kiel sagt Karsten, eine Wohnung wäre womöglich ja doch nicht schlecht. Ob er das noch schaffen würde, sich nach so vielen Jahren wieder in eigenen vier Wänden zurechtzufinden? Einen Augenblick überlegt er, dann sagt er: „Ist aber auch völliger Quatsch; mit meinem Schufaeintrag besäße ich ja eh nie eine Chance darauf.“ Eine Frage interessiert dann aber doch noch, nach seinen inzwischen 15 Winter auf der Straße. Wie stellt er sich den Alltag in weiteren 15 Jahren vor? „So weit kann ich nicht denken“, antwortet Karsten, „das ist vielleicht auch besser so.“

Peter Brandhorst

Erschienen in:
Schleswig-Holstein Journal, Wochenendbeilage der shz-Zeitungen; 28. Januar 2017