Bühne frei

Seit Ausbruch der Pandemie können die allermeisten Schauspielerinnen und Schauspieler ihrem Beruf nicht mehr nachgehen. Eine Begegnung mit der Theaterschauspielerin Bodil Strutz, die jetzt an einer Supermarktkasse arbeitet

Dies also ist der Ort, der in den vergangenen Jahren zu ihrem beruflichen Zuhause geworden war. Und jetzt ist es der, an dem sie ihren Beruf vorerst nicht mehr ausüben kann. Ein 35 Meter langer ehemaliger Motorfrachter, das einzige seetüchtige schwimmende Theater Europas nach eigenen Angaben, seit vielen Jahren in einem Hamburger Innenstadtfleet beheimatet. Drinnen im Bauch eine kleine Bühne, drumherum 120 Sitzplätze. "Ich liebe diese Bühne, die intime Nähe zum Publikum", sagt Schauspielerin Bodil Strutz, "ich spiele hier immer gerne."

Bis Corona kam, bis zum 14. März des vergangenen Jahres. Dann kamen für Strutz zunächst Hartz IV, danach Arbeit als Erdbeerverkäuferin, als Aushilfe an einer Supermarktkasse und zur jetzt begonnenen Saison zusätzlich auch am Spargelverkaufsstand.

"Aber ich bin froh, dass ich diese Jobs jetzt machen kann", sagt die in Schleswig-Holstein in der Nähe von Pinneberg lebende Strutz, 41 Jahre alt, an der Stage School Hamburg ausgebildet in Tanz, Gesang und Schauspiel, 18 Jahre Theatererfahrung an Bühnen quer durch Deutschland. Und nun zusätzlich bald ein halbes Jahr Erfahrung an der Kasse eines Bio-Supermarkts.

Corona hat auch ihr Leben auf den Kopf gestellt, und das Leben sämtlicher Kolleginnen und Kollegen dazu. Von gut 15.200 Beschäftigten der Berufsgruppe "Schauspiel, Tanz und Bewegungskunst" geht das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Deutschland aus, von Künstlerinnen und Künstlern also wie Bodil Strutz. Und dieser kompletten Branche musste vor gut einem Jahr bei Ausbruch der Pandemie von einem Tag auf den anderen der Stecker gezogen werden. Wie geht es den Betroffenen heute? Wie kommen sie zurecht in dieser großen Krise, emotional und ökonomisch?

"Insofern vernünftig, dass ich mich mit meinen Aushilfsjobs über Wasser halten kann", sagt Strutz, "aber schlecht, weil ich meinen erlernten Beruf nicht ausüben kann." Schauspiel bedeutet ja Ausdruck. Jetzt leben Künstler wie Strutz mit der Not, sich nicht ausdrücken zu können. Und man darf das ja auch noch weiterdenken: Nicht nur Bühnenleute haben im Moment kein Gegenüber, um ihre Werke entfalten zu können. Auch dem Gegenüber – dem Publikum, der Gesellschaft – fehlt plötzlich der Raum, um sich an einem besonderem Ort miteinander über die großen und kleinen Dinge des Lebens austauschen zu können.

"Theater erzählt Geschichten", sagt Bodil Strutz, "es lässt einen das Leben besser verstehen und neu betrachten."

Dass Schauspieler, Tänzer, Geschichtenerzähler wie sie von dieser Corona-Krise besonders betroffen sind, hat auch mit der speziellen Struktur der Branche zu tun. Denn feste, unbefristete Anstellungen existieren in der Schauspielbranche so gut wie nicht. Lediglich gut 2000 der 15.200 Schauspielerinnen und Schauspieler sind in einem Theaterensemble fest angestellt, so der in Berlin ansässige Bundesverband Schauspiel (BFFS) gegenüber HEMPELS, und allein sie haben jetzt einen Anspruch auf Kurzarbeitergeld. Wobei "fest" relativ ist: Allermeist sind sie lediglich für eine oder zwei Spielzeiten verpflichtet, danach verlassen sie eine Bühne wieder. Nur eine ganz kleine Schar von Schauspielenden schafft es, an einem Theater 15 Spielzeiten hintereinander verlängert worden zu sein und so ein unbefristetes Engagement erlangt zu haben.

Die übrigen rund 13.000 Schauspielerinnen und Schauspieler hoffen auf Stückverträge mit befristeten Anstellungen – mal als Gast an einer Bühne, mal für vorübergehende Rollen bei Dreh-, Synchron- oder Hörfunkarbeiten. Und sind jetzt vom völligen Wegfall ihrer Einkünfte betroffen. Wenn man mit Bodil Strutz durch den Bauch des privat betriebenen Hamburger Schiffstheaters spaziert, dann sieht man am Treppenabgang zwar eine Fototafel mit den derzeitigen Mitgliedern des dort eigentlich tätigen Ensembles. Allerdings: Wie an praktisch allen kleineren Bühnen haben die beschäftigten Künstler, anders als an den großen städtischen oder staatlichen Bühnen, keine "festen" Spielzeitanstellungen.

Die meisten Schauspielerinnen und Schauspieler in Deutschland gelten als "unständig beschäftigt", sind häufig nur für kurze Zeiträume angestellt und dann wieder arbeitslos. Bodil Strutz braucht sich dieser "nervenaufreibenden Ämtermühle", wie sie es nennt, nicht auszusetzen, da sie selbstständig arbeitet und bei der Künstlersozialkasse (KSK) versichert ist. Dass sie an Kultureinrichtungen wie dem Theaterschiff als Selbstständige auf Rechnung arbeiten kann, vermittele ihr gegenseitige Wertschätzung und Verantwortungsgefühl – zwei sich fair begegnende Partner auf Augenhöhe.

Ein später Vormittag im Nordwesten Hamburgs. Bodil Strutz – halblange dunkelblonde Locken, türkisfarbener Pullover, graue Chinohose – ist mit dem Fahrrad von ihrem Wohnort im Schleswig-Holsteinischen Grünen zur Filiale einer norddeutschen Bio-Lebensmittelkette gekommen, gleich wird sie maigrüne Arbeitskleidung tragen. Seit Anfang dieses Jahres hilft sie als 450-Euro-Kraft aus, mal an der Kasse, mal beim Einräumen der Ware, eine Chance in der Krise also. "Der Job bietet mir eine Perspektive", sagt sie, "es tut gut, zuverlässig planen zu können."

Auch Strutz wusste im Frühjahr des vergangenen Jahres ja noch nicht, was nun auf sie zukommen würde, damals, als Pandemie und Shutdown erstmals, nun ja, Hand in Hand gingen. Als freie Schauspielerin war sie gut im Geschäft, "etwa zwei Drittel des Jahres hatte ich zu tun"; zusätzlich zu zwei bereits laufenden Produktionen standen auf dem Schiff Proben für zwei weitere Stücke bevor. Und dann die plötzliche Vollbremsung. "Die Emotionen waren da schon heftig", sagt Strutz, ihre Stimme wird voller, wenn sie davon erzählt, "niemand von uns wusste ja, welche Auswirkungen das alles noch haben wird."

Vom Theaterschiff hat sie einige Ausfallgagen bekommen, im Winter konnte sie von der staatlichen Dezemberhilfe profitieren. Davor musste sie drei Monate lang, bis Juni, zunächst Hartz IV beziehen, anschließend ein paar Wochen Erdbeerverkauf an einem mobilen Stand, dann die Arbeit an der Supermarktkasse und jetzt zusätzlich der Spargelverkauf. "Etwas zu tun zu haben, ist gerade jetzt wichtig, sonst wirst du krank im Kopf".

Strutz weiß von Kolleginnen und Kollegen, die mittlerweile gegen "ein depressives Gefühl ankämpfen". Sie selbst versucht positiv bleiben, "irgendwann wird der Spuk hoffentlich vorbei sein". Fragt man beim Schauspielverband BFFS nach, wie viele Schauspielerinnen und Schauspieler sich derzeit ähnlich prekär über Wasser halten müssen, heißt es, keine genaueren Zahlen zu wissen. Jedoch bekomme man "zahlreiche Meldungen" von Mitgliedern, die in anderen Jobs "fremd gehen" müssen. Lediglich 3000 der 15.000 Schauspielerinnen und Schauspieler hatten laut BFFS vor dem jüngsten April-Shutdown jenseits der Theater wieder zumeist kurz befristete Jobs bei Dreh-, Synchron- oder Hörfunkproduktionen unter strengen Sicherheitsauflagen.

Viele seien inzwischen eigentlich auf Grundsicherung angewiesen, so der BFFS, "werden aber Schwierigkeiten haben oder davor zurückschrecken, sie zu beantragen". Denn zunächst müsste jedes Vermögen über 60.000 Euro aufgebraucht sein. Weil aber "Schauspieler wegen des ständigen Auf und Ab in der Berufslaufbahn nur eine kümmerliche Rente zu erwarten haben, sind sie auf solche Reserven fürs Alter dringend angewiesen". Begrüßt wird vom BFFS die Anfang des Jahres beschlossene und bis Juni geltende "Überbrückungshilfe III", von der auch ein großer Teil der Schauspielbranche mit bis zu 7500 Euro profitieren kann.

Zurück in das Theaterschiff, und man sieht Bodil Strutz dort unten jetzt an, dass es ihr wehtut, auf einer Bühne ohne Publikum zu stehen. Vergangenen Sommer hatte sie hier noch eine Handvoll Auftritte vor stark reduzierter Gästezahl und mit Hygienekonzept. Wann es unter Auflagen wieder losgehen kann? Weiß niemand, an keinem Theater, Strutz natürlich auch nicht, der nächste Shutdown galt zunächst ja bis zum 18. April.

Der Fotograf sagt jetzt, sie solle von dort auf der Bühne einfach mal Richtung Publikumsplätze blicken. Und Bodil Strutz schaut nach vorne und antwortet: "Ja, das Publikum – wo sind eigentlich die Zuschauer?"

Erschienen in Straßenmagazin HEMPELS, Mai 2021


Extrem belastend

Die Situation an den drei großen Theaterhäusern in Schleswig-Holstein

Die pandemiebedingte Situation bleibt für alle Theater extrem belastend. Wie eine HEMPELS-Umfrage bei den drei großen Bühnen des Landes (Schleswig-Holsteinisches Landestheater mit Sitz Rendsburg, Theater Kiel und Theater Lübeck) kurz vor Ostern ergab, haben alle Häuser detaillierte Konzepte entwickelt, um Vorstellungen durchführen zu können. Die drei Theater standen auch dem Kulturministerium bei der Entwicklung eines Sicherheitskonzeptes beratend zur Seite. Unklar blieb bis Redaktionsschluss aber weiter, wann unter diesen Voraussetzungen der Betrieb auch tatsächlich wieder aufgenommen werden kann.

Die letzten Vorstellungen in Präsenz fanden an den drei Häusern unmittelbar vor dem Start des zweiten Shutdowns statt, am 31. Oktober (Lübeck) beziehungsweise 1. November des vergangenen Jahres. Während am Theater Kiel zwischenzeitlich digitale Formate entwickelt wurden und zuletzt angedacht war, direkt nach dem bis zum 18. April (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe) geplanten jüngsten April-Shutdown den Bühnenbetrieb auch in Präsenz wieder neu aufzunehmen, "in welcher Form auch immer", hoffte das Landestheater darauf, am 2. Mai den regulären Spielbetrieb aufnehmen zu können. Beim Theater Lübeck hieß es, bislang lasse sich "keineswegs abschätzen, ob das Theater bis zum Herbst nochmals seine Türen öffnen wird". Vielleicht gelinge bei sinkenden Infektionszahlen ein Weg zu einzelnen Veranstaltungen.

Drei Theater mit drei verschiedenen erhofften beziehungsweise befürchteten Wiedereröffnungsszenarien – auch das beschreibt das weiterhin Unkalkulierbare an der derzeitigen Situation.

Beim Theater Kiel waren bei der zweiten Einstellung des Spielbetriebs vergangenen Herbst insgesamt 176 Schauspielerinnen und Schauspieler, Musiker, Tänzer und Sängerinnen in den Bereichen Schauspiel, Oper, Ballett, Junges Theater im Werftpark, Philharmonisches Orchester und Opernchor fest engagiert. Sie erhalten Kurzarbeitergeld, das vom Theater auf die jeweils ursprüngliche Gehaltshöhe aufgestockt wird. Insbesondere in der Oper seien zudem mehrere freischaffende Sängerinnen und Sänger beschäftigt gewesen, deren ökonomische Situation sich als "sehr unterschiedlich, aber insgesamt schlecht" darstelle. Solche als "unständig beschäftigt" klassifizierte Künstler seien bei den Corona-Hilfen des Bundes "schlicht und ergreifend vergessen" worden.

Das Schauspiel-Ensemble des Lübecker Theaters umfasst 15 fest engagierte Schauspielerinnen und Schauspieler, die mit Beginn der Corona-Krise Kurzarbeitergeld bezogen. Seit Wiederaufnahme der Proben Ende Februar zahlt das Theater deren Gagen fort. Außerdem beschäftige man mehrere Gäste, die bei Vorstellungsausfall entschädigt werden. Beim Landestheater sind rund 250 Künstler in den Bereichen Schauspiel, Gesang, Tanz und Sinfonieorchester angestellt, die durch Kurzarbeitergeld abgesichert sind. Weitere rund 30 soloselbstständige Künstler erhalten Ausfallgagen. Zahlen dazu, wie viele "unständig" beziehungsweise soloselbstständig Beschäftigte Künstlerinnen und Künstler derzeit auf berufsfremde Arbeitsmöglichkeiten zurückgreifen müssen, liegen den drei Theatern nicht vor.

An allen drei Häusern wird auf die gesellschaftliche Bedeutung kultureller Einrichtungen hingewiesen. Das Theater sei ein unverzichtbarer Baustein für soziales Miteinander und ziele "seit Anbeginn auf Kernfragen menschlichen Seins", so das Theater Lübeck. Der Mangel an diesem Angebot nach über einem Jahr Pandemie sei "eklatant". Dass "die gesamte Kultur" von der Politik "nicht oder nur sehr wenig mitgedacht wurde, das war sehr schmerzlich für uns", heißt es beim Theater Kiel.

Erschienen in Straßenmagazin HEMPELS, Mai 2021