Gehe in das Gefängnis

Die meisten Straftäter in Deutschland werden wegen geringer Schwere der Delikte nur zu Geldstrafen verurteilt. Dennoch landen sehr viele von ihnen im Knast. Warum eigentlich?


Er kennt sich aus im Knast, hat die Abläufe im Vollzug, die Einschränkungen des Alltags kennengelernt, fünf Mal schon in seinem Leben saß Bernd schließlich dort ein, mal bloß für 15 Tage, mal für mehrere Monate.

Von einem Gericht zu einer Haftstrafe verurteilt worden war er allerdings noch nie.

Ein kalter Wintertag, in einer Kieler Hilfeeinrichtung für Wohnungslose fragen die Gäste nicht nur nach Essen und Kaffee, sie suchen auch nach menschlicher Wärme, nach Rat und Beistand. Und wenn Bernd, Mitte vierzig und im Alltag mit einem anderen Vornamen, den Gesprächen zuhört, dann erkennt er aus den Erzählungen vieles wieder. Er war ja selbst auch mal obdachlos, war ohne Arbeit und dazu lange Zeit drogenabhängig. Vor einigen Jahren hat er das alles hinter sich gelassen, an diesem Tag ist er als Gast anwesend.

"Heute würde ich bestimmt nicht mehr in den Knast kommen", sagt Bernd also in der schützenden Einrichtung, sein Leben hat sich inzwischen geordnet, Drogen und Beschaffungskriminalität sind für ihn Vergangenheit, "aber damals konnte ich die gegen mich verhängten Geldstrafen nicht bezahlen und musste in Haft."

Rund 80 Prozent aller in Deutschland ausgesprochenen Strafen sind laut Online-Enzyklopädie Wikipedia Geldstrafen. Bei diesen 2019 insgesamt gut 567.000 Verfahren hatten Gerichte wegen der geringen Schwere der begangenen Delikte und Schuld ausdrücklich nicht die härtere Sanktion Gefängnis ausgesprochen – bei bestimmten Formen von Betrug und Diebstahl beispielsweise, nach Straftaten im Straßenverkehr oder Drogendelikten. Wer genug Geld hat und zahlt, für den hat sich auf strafrechtlicher Ebene die Angelegenheit anschließend erledigt.

Bernd, um den es in dieser Geschichte beispielhaft geht, hatte kein Geld und wanderte in den Knast. So wie in Deutschland jährlich geschätzt 50.000 weitere Menschen. Denn "an die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt Freiheitsstrafe", wie es das Strafgesetzbuch vorschreibt. Wer arm ist und eine Geldstrafe nicht bezahlen kann, muss also eine "Ersatzfreiheitsstrafe" (EFS) antreten. Bei Bernd waren 2007 nach seiner ersten Geldstrafe wegen Diebstahls die nicht bezahlten 150 Euro Gesamtstrafe in 15 Tagessätze Haft umgewandelt worden.

Die meisten Menschen, die in Deutschland Geldstrafen absitzen, leben von Hartz IV und sind zumeist eh schon verschuldet, 40 Prozent der wegen Zahlungsschwierigkeiten Inhaftierten kommen aus der Obdachlosigkeit, so die Süddeutsche Zeitung vergangenen Herbst. Noch eine Zahl: 200 Millionen Euro hat laut ARD-Magazin Monitor 2018 die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen gekostet.

Zwar existieren Alternativen, um mit der Ableistung sozialer Arbeitsstunden Knast zu vermeiden. Doch nicht immer wissen Betroffene davon, häufig fehlt es ihnen auch an Kraft, sich eigeninitiativ darum kümmern zu können, nicht selten erschweren psychische Probleme den Alltag dieser Menschen. Bernd, der damals seine inzwischen überwundene Drogensucht mit kleineren Diebstählen zu finanzieren versuchte, sagt heute, dass "ich nicht in der Lage war, mir Hilfe zu suchen. Mein Alltag hatte mich einfach überfordert".

In Schweden und Dänemark beispielsweise ist die Ersatzfreiheitsstrafe faktisch abgeschafft. Wer in diesen Ländern eine Geldstrafe nicht bezahlen kann, muss einem Richter vorgeführt werden mit der Auflage, streng zu prüfen, ob Zahlungsunwilligkeit vorliegt oder nur die Unfähigkeit dazu. Ist jemand zahlungsunfähig, darf keine EFS angeordnet werden.

Auch in Deutschland wird die Abschaffung der EFS und verbindliche Schaffung von ambulanten Sanktionen wie Sozialstunden schon länger diskutiert. Vor ein paar Jahren war im Bundestag ein Gesetzentwurf der Linken-Fraktion beraten worden, wurde schließlich aber im Rechtsausschuss abgelehnt. Auch der renommierte Strafrechtsexperte Bernd Maelicke, früher Ministerialdirigent im Justizministerium von Schleswig-Holstein, sieht "Handlungsbedarf", unter anderem wegen Zweifel an der resozialisierenden Wirkung von kurzen Freiheitsstrafen.

Und Bernd? 2014 war er das letzte Mal im Knast, weil er eine Geldstrafe nicht bezahlen konnte. "Ich hätte mir damals eine bessere Begleitung gewünscht, was ich tun kann, um nicht in den Knast zu müssen", sagt er heute. "Inzwischen weiß ich, wo ich professionelle Hilfe bekommen kann und bin dafür sehr dankbar."

Knast ist für ihn schon länger nur Vergangenheit.


Erschienen in: Straßenmagazin HEMPELS, Februar 2022