Straßenkunst: Dominik Bloh, heute 29, war elf Jahre obdachlos, trotzdem hat er damals sein Abitur gemacht

"Hier fing es an, dass sich was bewegt hat", sagt Dominik Bloh und blickt hinunter auf die Elbe. In einem öffentlichen Park mit stilisierten Palmen aus Stahl steht er jetzt, im Rücken das Hamburger Rotlichtviertel St. Pauli, vor sich den Fischmarkt, Docks, Kräne. "Hier konnte ich langsam meine Rastlosigkeit ablegen", sagt Bloh und zeigt auf eine hölzerne Panoramabank, "dort habe ich nachts immer geschlafen."

Dominik Bloh, früher unter anderem in der Nähe von Ratzeburg zu Hause gewesen und inzwischen 29 Jahre alt, ist in Hamburg mit 16 und für insgesamt elf Jahre obdachlos geworden; zwei Jahre, bis 2015, war der Park oberhalb der Elbe sein öffentlich einsehbares Zuhause. Nachts mit Schlafsack auf der Holzbank, am Tage mit Stift und Block und dem Ziel, das Leben schreibend neu zu ordnen. Inzwischen sind seine Texte in einem Aufmerksamkeit hervorrufenden Buch publiziert worden, "Unter Palmen aus Stahl". Und schon in den Jahren davor war ihm eine kaum vorstellbare Kunst gelungen: 2011 hat er, obdachlos lebend, sein Abitur gemacht.

Ein kalter und sonniger Nachmittag, in den Docks auf der anderen Elbseite wird hörbar gehämmert, genietet, geschraubt. "Ich bin weiterhin gerne hier", sagt Bloh im Park, "ein Ort der Ruhe für mich." Zumindest ein Ort, der ihm mehr Ruhe und Geborgenheit geboten hat, als er sie zuvor woanders im Leben erfahren konnte. Dann steckt er sich eine selbst gedrehte Filterlose zwischen die Lippen und muss erstmal nach einem Feuerzeug fragen, seines hat er vergessen. "In meinem Kopf ist noch nicht diese Ordnung", so Bloh, "da ist weiterhin viel Straße, die geht nur schwer raus."

Die Lebensgeschichte von Dominik Bloh erzählt viel über Wünsche und Enttäuschungen, über Elend, den Verlust von Würde und das Sich-zurückkämpfen-aus-Hoffnungslosigkeit. Seinen Vater hat er nie kennengelernt, vom Stiefvater wird er oft verprügelt, die Mutter ist schwer psychisch krank und mit dem Alltag überfordert. Als Sohn Dominik 16 ist, im Februar 2005, schmeißt sie ihn aus der Wohnung, für ihn beginnen elf Jahre, in denen er obdachlos auf den Straßen lebt oder sich als Mietnomade, in Schrebergartenlauben, als Couchsurfer durchs Leben schlägt.

Schon vorher hatte er manchmal geklaut und gedealt, um sich teure Klamotten kaufen zu können, nun rutscht er erst recht ab. Trotzdem hält er weiter am Schulbesuch fest, auch wenn er immer wieder schwänzt. Nach der Realschule wechselt er auf ein Wirtschaftsgymnasium und macht dort sein Abitur. "Schule war die letzte Form von Normalität für mich", sagt Bloh heute, "man ist dann noch in einem sozialem Geflecht. Und außerdem wollte ich mir etwas beweisen, nachdem ein Hauptschul-Lehrer gesagt hatte, aus mir werde ja eh nichts."

Sein Leben ohne festen Wohnsitz versucht er immer zu verheimlichen, nur wenige Lehrkräfte wissen davon und unterstützen ihn. Wenn es draußen zu kalt ist, fährt er nachts mit öffentlichen Bussen durch die Stadt, hält sich bei McDonalds im Hauptbahnhof auf und schläft am Tisch ein, bis er rausgeschmissen wird, oder er sucht sich früh öffnende Waschcenter. An solchen Orten erledigt er immer wieder auch seine schulischen Aufgaben, so gut das eben geht.

Bei den Ämtern scheint sich niemand wirklich für ihn zu interessieren, als jugendlicher Obdachloser sei sein Fall bloß hin- und hergeschoben worden, so Bloh. Beim Jugendamt "hat mal jemand zu mir gesagt, ich sei der hygienischte Obdachlose, den er kenne. Aber sonst könne er nichts für mich tun". Gute Körperhygiene war Bloh damals schon wichtig, aber dazu später mehr.

Ein paar Steinwürfe entfernt vom Park über der Elbe schlägt das Herz von St. Pauli. Der Hans-Albers-Platz, tagsüber ein eher trostloser Ort, war einige Jahre auch zu Blohs nächtlichem Hotspot geworden. Er findet dort Jobs als Koberer, verdient ganz gut, kann jetzt manchmal sogar für zehn oder zwanzig Euro in einem Seemannshotel schlafen. Als er merkt, dass sich auch hinter der grellen Rotlichtfassade viel menschliches Leid und Elend verbirgt, steigt er dort aus.

Bloh sucht sein ganzes Leben nach Wärme und Zuneigung, und was er überall immer nur findet, sind Kälte und Abweisung. "Meine Oma war die einzige, die mich mal in den Arm genommen hat", sagt Bloh; sie starb, als er 15 war. Und erst recht im Leben auf der Straße "geht vieles verloren an Würde", so Bloh, "es ist demütigend, in dreckigen Abfalleimern nach Flaschen suchen zu müssen." Was ihm aber bleibt, ist der Wunsch, im Elend nicht zu versinken. Denn "das Leben ist ein wunderschöner Kampf".

Die entscheidende Wende in Blohs Leben beginnt 2015, als auch in Hamburg viele Geflüchtete ankommen. Bloh engagiert sich in den Messehallen in Kleiderkammer und Massenunterkunft, erkennt in den dort gestrandeten heimatlosen Menschen Spiegelbilder seiner selbst und wird Mitbegründer des gemeinnützigen Vereins "Hanseatic Help", der Geflüchtete wie Obdachlose unterstützt. Bei einer Veranstaltung lernt er irgendwann den Unternehmer und früheren Fußballprofi Bobby Dekeyser und dessen Stiftung "Dekeyser&Friends" kennen, die sich um junge Menschen kümmert. Die Stiftung vermittelt ihm schließlich eine kleine Wohnung, in der er seit Frühjahr 2016 lebt.

"Dass ich das alles in einem Buch aufschreiben konnte, ist toll", freut sich Bloh, "damit ist ein Traum in Erfüllung gegangen." Schon immer hat er gerne geschrieben, eine Leidenschaft, mit der ihn seine Oma angesteckt hatte. Vor allem während der obdachlosen Jahre im Park über der Elbe "habe ich geschrieben, bis mir die Hände gezittert haben". Vergangenen Spätherbst ist das Buch im kleinen "Ankerherz Verlag" erschienen. Die Resonanz ist enorm, unter anderem hat sich ihm dadurch bei einer Hamburger Tageszeitung die Tür geöffnet für eine wöchentliche Kolumne zu Obdachlosigkeit.

Bloh will seine Jahre auf der Straße nicht vergessen, und er will weiterkämpfen für die, die den Absprung noch nicht geschafft haben. Und erstmal muss er doch auch weiterhin um sein eigenes Ankommen kämpfen. Er habe früher viele Dinge falsch gemacht, sagt Bloh, mehrere Tausend Euro Schulden haben sich angehäuft, weil er auf Raten gekauft hat, ohne die erfüllen zu können. Und seit er wieder eine Meldeadresse hat, ist ihm die GEZ auf der Spur und fordert 2000 Euro angeblich schuldig gebliebene Gebühren ein; auch die Krankenkasse möchte eine Nachzahlung von 5000 Euro, obwohl er doch gar nicht krankenversichert gewesen sei.

Das muss er alles in Ruhe ordnen, ein Schuldnerberater und andere Mernschen helfen ihm dabei. Ein paar Rückzahlungen sind bereits in die Wege geleitet, er verdient ja jetzt etwas Geld über den Buchverlag und seine Zeitungskolumne sowie über einen Honorarjob an einer Bildungseinrichtung, wo er Jugendlichen mit schwierigen Biographien aus seinem Leben erzählt; auf dem Bau hat er zusätzlich noch einen Helferjob.

Für zwei kleine Wohnungen, die ein Bildungsträger zur Verfügung stellen will, sucht er Obdachlose, die dort nach dem Konzept "Housing first" untergebracht werden können. Bloh ist überzeugt von dieser aus den USA kommenden Idee, die keinerlei Vorbedingungen von den Bewohnern fordert. Ähnlich ist ja auch er selbst nach elf Jahren Obdachlosigkeit zurück in eine neue Wohnung gekommen. Und dann will er einen durch Hamburgs Straßen fahrenden Duschbus mit Kleiderkammer initiieren. "Sich waschen können, gibt Würde", sagt Bloh, "Hygiene ist das erste Unterscheidungsmerkmal zwischen Bedürftigkeit und Normalität."

Damals im Park an der Elbe ist er regelmäßig von seiner Panoramabank aus losgezogen, hat sich Geld geschnorrt und damit das nächste Schwimmbad aufgesucht und auch darauf geachtet, saubere Klamotten zu tragen. "Ich habe mich immer geschämt für die Umstände, unter denen ich gelebt habe", sagt er heute, "aber wenigstens sollte man mir das nicht ansehen können."


Zuerst erschienen in: Straßenmagazin HEMPELS, April 2018