Verschickungskinder
Bis in die 1970er Jahre wurden viele Hunderttausend Kinder bei Aufenthalten in Kurheimen misshandelt. Erst jetzt beginnt die Aufarbeitung erlittenen Leids.

Die Erinnerungen hätten sie bis heute nie losgelassen, sagt Anna. 59 ist sie inzwischen, "und ich muss irgendwo nur das Wort Amrum hören, schon bekomme ich wieder Beklemmungen". An die sauer verdorbenen Milchsuppen denkt sie dann, oder an den kleinen Jungen ihr gegenüber im Speisesaal, der seine in den Teller erbrochene Suppe aufessen musste. "Die Erinnerungen hören nicht auf mich zu quälen", sagt Anna also, wenn sie an ihren Aufenthalt in einem Kinderheim auf Amrum zurückdenkt, damals 1967, als sie erst fünf Jahre alt war. Und auch daran zurückdenkt, mal eine Nacht auf einer Holzbank verbracht haben zu müssen, in einem Garderobenraum allein im Schlafanzug und ohne Decke. "Reine Demütigungen waren das", sagt Anna heute, "kindlicher Wille sollte gebrochen werden."

"Vor diesem Aufenthalt war ich ein kleines und dünnes Kind ohne Krankheiten, sehr lebhaft und vielseitig interessiert", so Anna heute, "danach habe ich mich häufig verweigert." Mit 16 habe es eine Phase gegeben, "da wollte ich meine Sorgen auch mal wegtrinken, später habe ich es mit einer Therapie versucht". Seit 14 Jahren ist die frühere Sachbearbeiterin nun frühverrentet, "wegen Depressionen". Und jetzt? "Jetzt ist es ein großes Glück für mich, all die anderen Menschen kennengelernt zu haben."

All die anderen Menschen: Mutmaßlich viele Hunderttausend Mädchen und Jungen aus ganz Deutschland wurden zwischen den 1950er und bis in die 1970er Jahre auf ärztliche Weisung in Kinderkurheime verschickt und dort in großer Zahl seelisch und womöglich auch körperlich misshandelt. Ein Schwerpunkt waren damals auch Heime in Schleswig-Holstein, dem Land zwischen den Meeren. Erst jetzt hat die bundesweite Aufarbeitung des erlittenen Leids begonnen.

Die Berliner Publizistin Anja Röhl, als Kind bei einem Aufenthalt in Wyk auf Föhr selbst betroffen, hatte im Herbst 2019 auf Sylt einen ersten Kongress Betroffener organisiert. Anna aus Kiel hat anschließend davon gehört und sich dem regionalen Netzwerk in Schleswig-Holstein angeschlossen. Inzwischen existieren in allen Bundesländern solche Netzwerke, nachzulesen auf der Seite www.verschickungsheime.de "Bis dahin dachte ich immer, ich sei ein Einzelfall und selbst Schuld an dem Erlebten", so Rentnerin Anna, "zu wissen, all die anderen Menschen mussten ähnliches erleben, das eint und stärkt uns jetzt."

Ein früher Freitagabend in einem Kieler Kulturcafé. Die 51 Jahre alte Susanne Dank betreibt die Einrichtung zusammen mit ihrem Mann, als fünfjähriges Kind war auch sie verschickt worden und will jetzt zusammen mit Anna und der 65 Jahre alten Helga Panknin, Beamtin im Ruhestand und früher Bauingenieurin bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, über erfahrenes Leid bei der Kinderverschickung sprechen. Dank und Panknin waren vergangenen Herbst bei dem Kongress auf Sylt dabei, auch sie dachten bis dahin, mit ihren Schrecken allein zu sein. "Man wusste sein ganzes Leben nicht, mit wem man darüber sprechen konnte", so Susanne Dank, zusammen mit Helga Panknin ist sie jetzt Ansprechpartnerin und das Gesicht des für Schleswig-Holstein zuständigen regionalen Netzwerkes.

Sie wollen sprechen und sich zugleich auch schützen. Man darf die beiden Frauen Dank und Panknin in dieser Geschichte deshalb namentlich und im Foto vorstellen, von der Zuordnung konkreter eigener Erlebnisse bitten sie jedoch abzusehen, das ist die Abmachung. Teil der Abmachung ist auch, dass die ebenfalls anwesende Anna in Wahrheit einen anderen Vornamen trägt und im Foto nicht erscheinen möchte. "Wir möchten im Alltagsleben mit unseren Erfahrungen nicht identifiziert werden können", so die drei Frauen.

Zu belastend ist in der Summe, was ihnen und vielen anderen damals passiert ist und was bis heute oft traumatisierend nachwirkt. Nicht nur von ungenießbarem Essen und Zwangsfütterungen berichten sehr viele, auch von zugeklebten Mündern, Fesselungen an Stühlen, Isolation, eiskalten Duschen oder stundenlangem Ausharren halbnackt in kalten Waschräumen. Die mittlerweile bundesweit vernetzten und sich selbst so nennenden Verschickungskinder fordern eine genaue wissenschaftliche Erforschung der damaligen Geschehnisse und auch, ob und wenn ja wie oft und wo es zu sexuellem Missbrauch und zu Medikamentenversuchen an Kindern gekommen sein könnte.

Die Historikerin und Sozialwissenschaftlerin Christiane Dienel, Geschäftsführerin vom Berliner nexus Institut, spricht von einem "sehr rauen Umgang, den man heute als Kindesmisshandlung bezeichnen würde". Professorin Dienel hat einen Fragebogen entwickelt, den Stand Ende Juli bereits rund 1400 Betroffene ausgefüllt haben. Darin werde "übereinstimmend von den Misshandlungen bei den Kinderkuren berichtet, es gibt nur ganz wenige positive Berichte", so Diemel gegenüber unserer Zeitung. Zur Zeit prüft das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Finanzierung eines 600.000 Euro teuren und vom Netzwerk der Betroffenen geforderten bundesweiten Forschungsprojekts, in dessen Rahmen Dienel die bisherigen Ergebnisse auswerten und durch Tiefeninterviews ergänzen will.

Die Heime befanden sich in privater Trägerschaft oder gehörten Krankenkassen, Kommunen und freien Wohlfahrtsverbänden wie Diakonie und Caritas. Organisiert und finanziert wurden die Kuren von Krankenkassen, Rentenversicherung, Kommunen und verschiedenen Sozialwerken. "Alle haben viel Geld verdient", sagt Betroffenen-Sprecherin Helga Panknin in Kiel. 1963 gab es laut einer Recherche von "Der Spiegel" deutschlandweit 839 Heime mit Platz für jährlich 350.000 Kinder. Professorin Dienel spricht von "mindestens 159 Heimen" in Schleswig-Holstein. Meist wurden die häufig aus finanziell schlechter gestellten Familien stammenden Kinder auf ärztliche Anweisung und im guten Glauben der Eltern nur deshalb zur Kur verschickt, weil sie angeblich "zu dick" oder "zu dünn" waren.

In den Heimen sei mit einem "Erziehungsstil aus den von der NS-Ideologie geprägten 1930er und 1940er Jahren" gearbeitet worden, so Wissenschaftlerin Dienel. Damals Betroffene berichten, dass sie das fast ausnahmslos weibliche Personal stets mit "Tanten" ansprechen mussten. Kontaktaufnahmen der Kinder während der Kuren zu ihren Eltern wurden unterbunden. Anna aus Kiel, die eigentlich einen anderen Vornamen hat: "Ich hatte eine Tante gebeten meinen Eltern zu schreiben, dass ich dort wieder weg will; sie hat mich dann nur angeschrien."

Einen Postkartengruß der Tochter erhielten Annas Eltern aber doch – eine vorgedruckte Karte mit "herzlichen Grüßen" und dass das Kind "gut angekommen" sei. Viele andere berichten von ähnlichen Erlebnissen, postalische Grüße an das Zuhause wurden ins Gegenteil formuliert, Ängste nicht übermittelt. Manch Kind von damals berichtet heute davon, eine der Tanten gebeten zu haben, den Eltern von dem Wunsch nach vorzeitiger Rückholung zu schreiben. Manchmal erst Jahre später habe man daheim dann eine Karte vorgefunden, auf der nichts davon zu lesen war. "Bis dahin dachte ich, meine Mutter hätte mich verraten, weil sie mir in meiner Not nicht geholfen hat", sagt eine Betroffene. Vielen so geprägten Kindern ist es später schwer gefallen, Vertrauensverhältnisse und Stabilität zu Eltern und anderen Erwachsenen aufzubauen.

Vergangenen Mai haben auch die Jugendminister der Bundesländer das Leid dieser Menschen anerkannt. In Schleswig-Holstein spricht der zuständige Sozial- und Jugendminister Heiner Garg (FDP) von "schwarzer Pädagogik", die in den Heimen praktiziertet worden sei, und kündigt "eine systematische Aufarbeitung der Ereignisse" und Unterstützung des Betroffenen-Netzwerks an. Ein Sprecher: Man wolle "eine umfangreiche systematische Aktenrecherche" vornehmen; problematisch sei jedoch, dass der Zugang zu den Akten erschwert und nicht alle Unterlagen frei zugänglich seien.

Den Betroffenen selbst geht es bei der Aufarbeitung nicht um individuelle Entschädigungen. Sie fordern die Anerkennung erlittenen Unrechts und von Bund, Ländern und Kommunen insgesamt drei Millionen Euro, um die Geschehnisse erforschen und Betroffene in Selbsthilfe beratend unterstützen zu können. "Die Gesellschaft muss daraus lernen, sensibel für angetane Gewalt zu werden", sagt in Kiel Netzwerk-Sprecherin Helga Panknin, "was damals mit uns Kindern passiert ist, darf sich heute auch in anderen Bereichen nie wiederholen."

Und Anna sagt dann bei dem Treffen im Kulturcafé noch: "Damals nach den Wochen im Kinderheim auf Amrum habe ich eine Zeit lang nicht mehr gelacht. Als Kind wusste ich aber nicht, warum das so war. Jetzt weiß ich, dass es nicht nur mir allein so erging. Das hilft sehr."

Der "Verein zur Aufarbeitung und Erforschung von Kinderverschickungen e. V." führt vom 19. - 22. November 2020 auf Borkum einen 2. Kongress durch. Mehr Informationen auf der Seite: www.verschickungsheime.de

Erschienen in: Publik-Forum Extra Leben; 12/2020