Kinder fast noch, und doch schon im Knast
Wenn Heranwachsende straffällig werden, ist in deren Leben zuvor schon eine Menge passiert. Was genau eigentlich? Und wie umgehen mit ihnen? Eine Begegnung in Kiel und ein Besuch in Schleswig

19 ist Jay inzwischen, und jetzt will er zeigen, wo er aufgewachsen ist. Da hinten die Grundschule und das Gymnasium, auf die er als Kind ging, schmale Wege durch kleine Parkanlagen und vorbei an lauter gleich aussehenden Wohnblöcken. "Hier hat das ganze Spiel ja angefangen", sagt Jay irgendwann, er benutzt tatsächlich das Wort "Spiel", damals hat er das wohl so gesehen. Inzwischen weiß er genau, wohin ihn dieser Weg geführt hat, sein Weg.

Jetzt aber erst mal weiter durch den Kieler Stadtteil Mettenhof, seinem Zuhause, immer mal wieder läuft ihm jemand Bekanntes über den Weg. "Alles gut?", unterhält er sich einen kurzen Moment mit einer jungen Frau. "Freundin meiner Schwester", erklärt Jay später, "aber zu Leuten von früher sage ich bloß noch Hallo und Tschüss." Ein paarmal sagt er an diesem Nachmittag auch gar nichts mehr zu ein paar jungen Burschen, die ihm begegnen und die er noch von früher her zu kennen scheint. Früher, das waren die Jahre, während der er unter anderem zu bewaffneten Rauben mit schwerer Körperverletzung angestiftet und auch mit Drogen gedealt hatte. Die Jahre, die dafür sorgten, dass er sich für längere Zeit nicht an seinem gewohnten Zuhause aufhalten konnte.

Ein Sommernachmittag, ein paar Tage vorher hatte man sich mit dem 19-Jährigen schon mal bei einer Cola in einem Kieler Innenstadtcafé getroffen, jetzt beim Rundgang durch den Stadtteil sind es immer noch erst ein paar Wochen her, dass er endlich zurück ist in seinem Viertel. Davor hatte er ja für längere Zeit im Jugendknast festgesteckt, aufaddiert drei Jahre und drei Monate Jugendstrafe. "Die Haft", sagt Jay jetzt hier draußen in Mettenhof, "war das erste Mal in meinem Leben, wo ich richtig durchatmen konnte."

Das erste Mal im Leben zur Ruhe kommen, endlich mal durchatmen können – was passiert eigentlich mit jungen Straftätern in Jugendanstalten wie der in Schleswig, dem einzigen Jugendknast Schleswig-Holsteins? Was sind das für Jungs, die dort landen, welche Biographien bringen sie mit? Und überhaupt: Immer wenn mal wieder eine außergewöhnliche Tat besondere Medienöffentlichkeit erfährt, wird von dem scheinbar außer Kontrolle geratenem Problem Jugendkriminalität gesprochen.

Vielleicht also zunächst mal ein paar Zahlen, um abzuklopfen, worum es hier eigentlich geht.

Schuldfähig ist in Deutschland, wer zur Tatzeit mindestens 14 Jahre alt war; das Jugendstrafrecht gilt für bis zu unter 18-Jährige und unter bestimmten Umständen auch für bis zu unter 21-Jährige. Sie alle können bei erwiesener Schuld entweder zu Erziehungsmaßregeln (Weisungen, Anordnungen, Hilfen zur Erziehung) verurteilt werden, zu Zuchtmitteln (Verwarnungen, Auflagen oder Jugendarrest) oder zu einer Jugendstrafe, der härtsten von den drei möglichen Sanktionen. Wer zu einer Jugendstrafe ohne Bewährung verurteilt wurde, kann sie bis zum 24. Lebensjahr im Schleswiger Jugendknast verbüßen. Kinder unter 14 Jahre gelten als strafunmündig; für sie und gegebenenfalls ihre Familien werden Maßnahmen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ergriffen.

Die Zahl der jungen Tatverdächtigen geht in ganz Deutschland seit etwa 20 Jahren deutlich zurück. Gab es 2004 in Schleswig-Holstein laut polizeilicher Kriminalstatistik des Landeskriminalamtes noch knapp 20.000 Tatverdächtige zwischen 14 und 21 Jahre, sank die Zahl seitdem kontinuierlich auf 11.000 in 2021. Dass sie 2022 und 2023 schrittweise wieder etwas gestiegen ist auf zuletzt knapp 13.000 (fast 10.000 davon männlich, gut 3000 weiblich) wird von Fachleuten als vorübergehender "Corona-Effekt" gesehen – nach den Ausgehverboten durfte man sich wieder im öffentlichen Raum bewegen. Und war vor zwanzig Jahren noch "vorsätzliche einfache Körperverletzung" das häufigste Delikt, ist es seit zwei Jahren "Ladendiebstahl ohne erschwerende Umstände", gefolgt von "allgemeiner Verstoß mit Cannabis und Zubereitungen" (zweithäufigstes Delikt 2022) und "vorsätzliche einfache Körperverletzung" (zweithäufigst 2023).

Rückläufig sind auch die Verurteilungen und Sanktionen nach Jugendstrafrecht. Laut Schleswig-Holsteinischem Justizministerium sank die Zahl – bezogen auf die Gesamtheit von Jugendstrafe, Zuchtmittel und Erziehungsmaßregeln – seit 2014 (ältere Zahlen liegen nicht vor) von knapp 1700 Verurteilten auf gut 770 im Jahr 2023. 99 davon waren 2023 zu einer Jugendstrafe mit oder ohne Bewährung verurteilt worden, gut 400 zu Erziehungsmaßregeln und gut 630 zu Zuchtmitteln. Der weit überwiegende Anteil der Verurteilten – 89 Prozent – ist männlich.

Und so wie sich die Zahlen der Tatverdächtigen und Verurteilten seit Jahren stark rückläufig bewegen, sinkt auch die Zahl der im Schleswig-Holsteinischen Jugendstrafvollzug einsitzenden Täter. (Gendern ist an dieser Stelle nicht nötig; junge weibliche Strafgefangene aus Schleswig-Holstein werden im niedersächsischen Vechta in der Frauen-Justizvollzugsanstalt untergebracht.) Landeten 2013 also noch 125 der nicht nur zu einer Bewährungsstrafe verurteilten männlichen Jugendlichen im geschlossenen Strafvollzug, waren es 2023, jeweils Stichtag 31. März, mit 54 nur noch deutlich weniger als die Hälfte; hinzu kamen und kommen jeweils Gefangene in der Untersuchungshaft.

Um zu verstehen, wer diese jungen Heranwachsenden sind, die im Übergangsstadium zwischen Kindheit und Erwachsenenalter mit ihrem Denken und Handeln längst derart abgedriftet sind, dass eine Zeit lang nur noch der Freiheitsentzug bleibt mit all seinen erzieherischen Maßnahmen, von denen noch die Rede sein wird, fährt man an einem kalten und nassen Herbsttag am besten Richtung Schleswig und parkt das Auto in einem stadtnahen Wäldchen vor einer ziemlich hohen Mauer.

Antje Ott leitet dort seit Mai 2021 die Jugendanstalt (JA), bereits seit 28 Jahren ist die Diplom-Psychologin im Justizvollzug tätig. Und wenn sie jetzt über ihre einsitzende Klientel redet, dann spricht sie viel über Beziehungsabbrüche, über traumatisierende Lebenserfahrungen, Schulabbrüche oder wechselnde Fremdunterbringungen, wenn Kinder schon ganz früh und mit hoher Schlagzahl durch Heime oder sozialtherapeutische Wohngruppen gerauscht sind, ohne dass sie irgendwo Anker werfen konnten.

Etwa die Hälfte der jungen Menschen in der JA Schleswig hat inzwischen einen Fluchthintergrund, "das sind ja ganz dramatische Dinge, die diese Menschen in ihrem bisherigen Leben erlebt haben", sagt Ott. Sehr viele andere stammen aus desolaten deutschen Familien mit überforderten Eltern. "Es kommen hier aber auch Jugendliche aus relativ gut situierten Familien an", so Ott, "bei denen geht es um emotionale Verwahrlosung, Wohlstandsverwahrlosung." Wieder andere wuchsen zunächst einigermaßen normal auf, bevor sie in Peergroups gerieten, die kriminell neben der Spur agieren.

Jugend ist und war schon immer eine Lebensphase, zu der der Drang zum Normbruch und erhöhtes Risikoverhalten gehören, Die Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention des Deutschen Jugendinstituts (DJI) in München spricht in der 2024 veröffentlichten Studie "Jugendgewalt" davon, dass Jugenddelinquenz "weit verbreitet" ist und "mit Blick auf sog. Bagatelldelinquenz im Dunkelfeld nahezu alle Jugendlichen" betrifft. Die überwiegende Mehrzahl der auffällig gewordenen Kinder und Jugendlichen werde dies "lediglich ein- bis zweimal". Delinquenz im Jugendalter bewege sich "überwiegend im Bereich von Ladendiebstahl, Sachbeschädigung, Fahren ohne gültigen Fahrschein und einfacher Körperverletzung" und sei "eher spontan und häufiger in Gruppenkontexte eingebunden".

Ihre Spitze erreicht Jugenddelinquenz zwischen dem 16. und 21. Lebensjahr. Die Forscherinnen und Forscher vom DJI haben auf Grundlage der bundesweiten Kriminalitätsstatistik des Jahres 2023 eine Alterskurve errechnet. Demnach waren 1,2 Prozent der 16- bis 18-jährigen jungen Männer einer Gewaltstraftat verdächtigt (junge Frauen: 0,23 Prozent). Bei den 18- bis 21-Jährigen waren es 1,04 beziehungsweise 0,17 Prozent. Danach fällt die Kurve kontinuierlich weiter ab; bei den über 60-jährigen Erwachsenen sind es 0,05 Prozent der Männer und 0,01 Prozent der Frauen.

Bei Jay, dem 19-Jährigen aus Kiel, der seinen richtigen Vornamen nicht in der Zeitung lesen möchte, ging das "Spiel", von dem er eingangs sprach, schon ganz früh los. Bereits in Kita und Grundschule habe es Handgreiflichkeiten gegeben, "wenn sich jemand vordrängelte". Nach einem Jahr auf dem Gymnasium flog er von der Schule, weil er sich "wegen der angespannten Lage im Stadtteil mit vielen Massenschlägereien", wie er meint, einen Elektroschocker besorgt hatte; es folgten einige Monate auf einer Realschule, bevor Schule für ihn ganz vorbei gewesen sei.

Stattdessen Überfälle und Dealereien. Mal wohnte er dann bei seinem mittlerweile getrennt lebenden Vater, mal bei der Mutter, die beide vor 25 Jahren als türkisch-kurdische Kriegsflüchtlinge nach Deutschland gekommen waren. Was auch folgte: Aufenthalte in Heimen und Psychiatrien, zwischendurch dann immer mal wieder zurück zur Mutter. "Ich bin immer hin und her geswitcht", blickt Jay zurück, an sieben oder acht Heimaufenthalte als Kind will er sich erinnern, manchmal an weit entfernten Orten, an drei oder vier Male in der Psychiatrie, manchmal sei er dort auch fixiert worden, weil man wohl nicht wusste, wie mit ihm umgehen.

Wie hat er diese Zeit wahrgenommen, damals als kleiner Junge? "Man kann jeden Tag die Sonne sehen", sagt Jay, "aber man kann sie nicht spüren. Man spürt die Wärme einfach nicht." Die Mutter habe eigene Probleme gehabt, "sie musste die Sprache lernen und hatte wenig Kontakte. Und dann komme ich noch und sage: Mama, ich brauche Liebe und Aufmerksamkeit". Was er zu Hause nicht bekam, hat er sich auf der Straße geholt. Mit 14 kam er das erste Mal für ein paar Monate in Untersuchungshaft und wurde zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt, im Herbst 2021 folgte die zweite Verurteilung – drei Jahre und drei Monate, diesmal ohne Bewährung. Unter Anrechnung der vorherigen U-Haft musste er davon noch zwei Jahre und neun Monate absitzen.

Aus Kiel zurück in die Jugendanstalt Schleswig. Nathalie Bettzieche arbeitet dort seit März 2023 als Psychologin mit Masterabschluss, jeder junge Gefangene führt schon gleich nach Ankunft Gespräche mit ihr. Sie klopft dann ab, unter welchen Voraussetzungen die jungen Menschen in der Anstalt ankommen, wie intakt die Familienverhältnisse sind, ob jemand zur Schule gegangen ist, welche Suchterfahrungen er mitbringt, welche Ziele es gibt. "Hauptsächlich finden wir psychische oder psychiatrische Vorerkrankungen vor, darin eingeschlossen sehr häufig Suchterkrankungen", sagt Psychologin Bettzieche. Vor allem schwere psychiatrische Erkrankungen nähmen mittlerweile zu. Sie könne nur vermuten, dass es "da allgemein auch einen Anstieg in der Bevölkerung gibt, der sich hier dann widerspiegelt".

Jugendkriminalität, das wird auch beim Gespräch mit der Psychologin deutlich, hat immer eine Vorgeschichte, sie entsteht nicht aus dem Nichts. Wer wegen einer Gewalttat im Jugendknast landet, hat zuvor meist selbst Gewalt erlebt, physische oder psychische. In Anstalten wie der in Schleswig versuchen sie dann gegenzusteuern. Oberstes Ziel ist der Erziehungsgedanke und die damit verbundene Resozialisierung. "Wir haben eine klar definierte Aufgabe", sagt Vollzugsabteilungsleiter Martin Stichel, "dass die jungen Leute nicht wieder Straftaten begehen und wir die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten schützen." Gleichwohl, so Stichel, versuche man das in einem Kontext zu machen, "dass es sich nicht nur als Strafe anfühlt, sondern als Hilfe".

Gefangene mit schweren Gewaltdelikten oder Sexualstraftaten mit mindestens 15 Monate Resthaftzeit sind in der Sozialtherapeutischen Abteilung (SothA) in Wohngruppen untergebracht; geprüft wird eine Teilnahme am sozialtherapeutischen Programm bei allen Gefangenen mit einem besonderen Behandlungsbedarf. In der SothA arbeiten zwei psychologische Fachkräfte.

Die einzelnen Taten werden in der SothA psychologisch aufgearbeitet, es gibt unter anderem eine Wut-Ärger-Konflikt-Gruppe und Trainings sozialer Kompetenzen. Gefangene mit kürzeren Haftzeiten werden in vier weiteren Wohngruppen psychologisch und sozialpädagogisch betreut. Insgesamt kümmern sich in der Anstalt sechs Psychologinnen um die Inhaftierten, eine von ihnen kommt als externe Mitarbeiterin von pro familia zu einzel- und gruppentherapeutischen Gesprächen ins Haus. Zudem gibt es eine externe und vom Suchthilfezentrum Schleswig durchgeführte Suchtberatung. Im Durchschnitt verbringen die jungen Gefangenen anderthalb Jahre in Schleswig.

Intensive sozialtherapeutische Arbeit über die gesamte Haftzeit ist das eine, das andere sind betriebliche und schulische Bildung. Weniger als 20 Prozent der Gefangenen sind vor der Haft einer Erwerbsarbeit nachgegangen, manche, nicht nur Geflüchtete, können nicht lesen und schreiben. In insgesamt sechs vom externen Träger Berufsbildungszentrum (BBZ) Schleswig organisierten Werkstätten werden sie auf den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt vorbereitet; ausprobieren können sie sich in Bereichen wie Holz, Metall, Farbe oder Bau bis hin zu Küche. Jeder bekommt einmal wöchentlich Berufsschulunterricht, zusätzlich gibt es 16 Plätze, um im ESA-Kurs den Ersten Allgemeinbildenden Schulabschluss nachholen zu können, früher Hauptschulabschluss.

Für betriebliche wie auch schulische Arbeit werden monatlich rund 200 Euro Verdienst gutgeschrieben; drei Siebtel davon sind zum persönlichen Gebrauch, beim alle zwei Wochen kommenden Kaufmann können Tabak oder Lebensmittel erworben werden, um in den zu den Wohngruppen gehörenden Küchen eigene Speisen zuzubereiten. Das restliche Geld ist Startkapital für die Zeit nach der Haft.

"Die meisten wollen auch arbeiten, die wollen was lernen", sagt Katja Sehrbrock. Die Sozialpädagogin ist seit 2013 Leiterin dieses BBZ-Bereichs. Sie und ihre Kollegen achten dabei nicht nur auf die fachliche Mitarbeit, sie versuchen auch Struktur und Zuverlässigkeit in die Köpfe zu bringen und die Einhaltung von Regeln zu vermitteln. Kannten sie ja bisher alles nicht, einige wussten vorher nicht einmal, was Pünktlichkeit bedeutet. Wer drei Mal nicht zur Arbeit kommt, oder wer gewalttätig auffällt und sich auch sonst nicht an Regeln hält, bekommt eine Abmahnung und ist zwei Wochen lang für die Arbeit gesperrt, je nach Schwere können als erzieherische Maßnahmen auch der Haftraumfernseher geblockt oder Freizeitangebote eingeschränkt werden.

"Rückschläge gibt es, klar", sagt BBZ-Bereichsleiterin Sehrbrock, "aber wir fangen dann immer wieder geduldig von vorne an." Fehler werden sanktioniert, aber wer Fehler macht, erfährt keine Ablehnung, er wird stattdessen in bester Absicht ausgehalten. Für Jugendliche, die zuvor in ihrem Leben häufig aus Schulen oder Jugendhilfeeinrichtungen rausgeschmissen wurden, weil man sie dort nicht mehr aushalten wollte oder konnte, eine ungewohnte Erfahrung.

In den Werkstätten bauen sie dann zum Beispiel auch Stützkissen für frisch operierte brustkrebskranke Frauen oder Kinderpuppenstuben, Produkte, die anschließend gemeinnützig gespendet werden. Und wenn sie für ihre Arbeit Lob bekommen, auch von den Empfängern der Spenden, "dann merken sie manchmal zum ersten Mal im Leben, ich mache was richtig", so Sozialpädagogin Sehrbrock. Jeder bekommt für seine schulische und betriebliche Arbeit bei Entlassung qualifizierte Beurteilung und Zeugnis. "Sie haben was in der Hand, wenn sie hier rausgehen", so Sehrbrock.

Große Bedeutung hat in einer Jugendanstalt auch der Freizeitsport. Jugendliche trimmen gerne ihren Körper, und wer in der Fußballmannschaft mitmacht, kann an Turnieren außerhalb der Anstalt teilnehmen. Von der Nutzung von Fitnessräumen über eine Turnhalle bis hin zum Tischkicker ist in Schleswig vieles möglich. "Wir versuchen, vor allem Teamsportarten zu fördern", sagt Andreas Henke, Abteilungskoordinator der Sozialtherapeutischen Abteilung und auch zuständig für den Sportbereich, "die führen an Regeln ran, stärken den Teamgedanken und das Wir-Gefühl." Neulich habe man in Berlin an einem Turnier mit anderen Gefangenenteams teilgenommen. "Von neun Mannschaften wurden wir erste; nicht weil wir spielerisch besser waren, sondern weil der Teamgedanke groß war und wir eine Einheit."

Also ja, sie sind grundsätzlich optimistisch, die in der Jugendanstalt Schleswig arbeitenden Menschen. Sie vollstrecken von Gerichten ausgesprochene Strafen und wirken dabei viel mehr noch auch als sozialpädagogische Reparaturanstalt für gesellschaftlich angerichtete Schäden; die Gesellschaft mit all ihrer Unvollkommenheit und Ungleichheit spiegelt sich ja auch in Jugendanstalten. Aber sie wissen in Schleswig natürlich, dass sie in relativ kurzer Zeit nicht alles reparieren können, was zuvor über Jahre schiefgelaufen ist und sich verfestigt hat.

Jugendvollzug hat eine hohe Rückfallquote. Zahlen für Schleswig-Holstein kennt das Justizministerium nicht, verweist aber auf eine ältere bundesweite Studie des Bundesamtes für Justiz aus dem Jahr 2020, mit der die Rückfälligkeit für den Zeitraum von 2004 bis 2016 ermittelt wurde. Demnach lag die drei Jahre nach Entlassung aus einer Jugendstrafe ohne Bewährung bei 70 Prozent (zwölf Jahre nach Entlassung: 84 Prozent); drei Jahre nach einer Verurteilung mit Bewährung waren es 64 Prozent (zwölf Jahre danach: 80 Prozent).

"Rückfall ist aber nicht gleich Rückfall", sagt Anstaltsleiterin Antje Ott, "als Rückfall wird auch die Erschleichung von Leistungen gewertet, wenn jemand ohne Fahrschein im ÖPNV fährt." Ott schätzt, dass tatsächlich etwa 40 Prozent irgendwann wieder einschlägig in Haft kommen, dann meist im Erwachsenenvollzug. Psychologin Nathalie Bettzieche spricht von "Lücken bei entlassenen Jugendlichen, die das 18. Lebensjahr vollendet und keine unterstützende Familie haben". Aus ihrer Sicht bräuchte es staatliche Einrichtungen, die jene junge Menschen aufnehmen und begleiten, die im Leben weiterhin noch nicht zurechtkommen.

Der ehemalige Gefangene Jay aus Kiel sagt bei einem der Treffen im Sommer, Haft sei über die Jahre zu seiner Chance geworden. Zu Beginn habe er auf die Frage, ob er Hilfe wolle, mit Nein geantwortet, "ihr seid mein Feind". Später habe er sich wie durch einen Spiegel betrachtet. "Irgendwann hat es dann klick gemacht und man merkt, dass man jahrelang Krieg mit sich selbst geführt hat." Erst in der Therapie habe er verstanden, wer der Feind ist und "dass man den Krieg nur mit sich selbst führt. Man wusste früher ja nicht, dass man was falsch gemacht hat. Man war damit aufgewachsen und kannte das nicht anders". Die Haftzeit hat er auch dazu genutzt, seinen Hauptschulabschluss zu machen.

Als man gut zwei Monate nach dem ersten Treffen noch einmal mit ihm spricht, erzählt er von der Freundin und dass sie ihn bei der Suche nach einem neuen Job unterstütze, der bisherige habe nicht so gepasst, leider. "Sonst läuft alles einigermaßen", sagt Jay, und was den neuen Job betrifft, habe er ja auch schon eine Idee.

Manchmal begegnet er auf der Straße Bekannten aus seiner früheren Szene. "Aber ich habe die Kurve gekriegt", sagt er, "die alten Sachen – da geht bei mir gar nichts mehr." Jetzt warten auf ihn ja die neuen Sachen, selbst wenn es auf dem Weg dahin manchmal auch mühsam und herausfordernd zugeht.


Text von Peter Brandhorst; erschienen im Juno 2025 Straßenmagazin für Schleswig-Holstein HEMPEL

Hintergrund

Die Geschichte über Jugendkriminalität und die Arbeit in der Jugendanstalt (JA) Schleswig entstand bereits vergangenen Herbst und hätte eigentlich schon vor einigen Monaten veröffentlicht werden sollen. Dass es dazu bislang nicht kam, hat mit Vorfällen in der Jugendanstalt zu tun, die erst nach Erstellung des Textes bekannt wurden.

Zwei Mitarbeiterinnen der Anstalt, einer Psychologin und einer Abteilungsleiterin, wird vorgeworfen, jeweils eine sexuelle Beziehung zu einem damals 17-jährigen Jugendstraftäter unterhalten zu haben, ohne voneinander zu wissen. In Medienberichten wurde anschließend gemutmaßt, dass die beschuldigten Mitarbeiterinnen dadurch unter anderem auch Drogengeschäfte des Jugendstraftäters ermöglicht und sie sich für seine Entlassung stark gemacht haben könnten. Bereits am 9. Oktober 2024 fanden Durchsuchungen bei den Beschuldigten sowie in der JA statt, bekannt wurde das im November vergangenen Jahres. Beide Personen arbeiten seit bekannt werden der Vorwürfe nicht mehr in der Anstalt. Gegen die Mitarbeiterinnen ist gemäß SHZ im Mai 2025 durch das Amtsgericht Schleswig Strafbefehl wegen des Vorwurfs der Bestechlichkeit und des Missbrauchs von Gefangenen erlassen worden. Eine der beiden Angeklagten habe hiergegen Widerspruch eingelegt.

Anstaltsleiterin Antje Ott wurde für zunächst sechs Monate an das Ministerium für Justiz und Gesundheit abgeordnet. Laut Medienberichten handele es sich dabei ausdrücklich nicht um eine Strafversetzung, sondern um eine Schutzmaßnahme und geschehe ausschließlich aus Fürsorgegründen. Bei einer Sitzung des Innen- und Rechtsausschusses des Landtags erklärte Justizstaatssekretär Otto Carstens, aus den dem Ministerium vorliegenden Unterlagen lasse sich "nicht entnehmen, dass die Anstaltsleitung Hinweisen nicht nachgegangen ist".

Zu dem Zeitpunkt, als HEMPELS vor Ort in der JA die Interviews mit mehreren Beschäftigten geführt hat, unter anderem auch mit Anstaltsleiterin Ott, waren die Vorwürfe gegen die beiden beschuldigten Mitarbeiterinnen noch nicht öffentlich bekannt. Die in unserem Text zu Wort kommenden Personen sind von den Vorwürfen nicht betroffen. Wir haben uns entschlossen, die Geschichte jetzt so zu veröffentlichen, wie sie vergangenen Spätherbst geschrieben wurde. Denn unabhängig von dem mutmaßlichen Fehlverhalten zweier einzelner Mitarbeiterinnen findet in Jugendanstalten wie der in Schleswig wichtige resozialisierende Arbeit zum Nutzen der gesamten Gesellschaft statt.